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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Höhere Lehranstalten

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Höhere Lehranstalten (Kabinettsorder vom 1. Mai 1889).

Reform unsers höhern Unterrichtswesens, nicht minder die starke Bewegung und Verwirrung, in welcher sich die öffentliche Meinung über diese Reform befindet, drängen die unterzeichneten Lehrer der Universität Halle dazu, ihren Überzeugungen in zwei für unsre Universitätsstudien entscheidenden Punkten Ausdruck zu geben. 1) Die Idee unsrer deutschen Hochschule als universitas litterarum, die Idee einer bei allem Auseinandergehen der Fachstudien gleichartigen und einheitlich fundamentierten Bildungsschule erfordert durchaus eine einheitliche Vorbildung. Würde dieser schon nicht mehr ganz gewahrte Grundsatz, anstatt wieder strenger festgehalten zu werden, noch weiter durchbrochen, dann würden unsre Studierenden fortan in zweierlei Bildungsklassen zerfallen, für welche ein einheitlicher Unterricht nicht mehr möglich wäre. 2) Jene einheitliche Bildung, auf welcher unsre Universitätsstudien ruhen, kann nur die historisch-klassische sein, wie das humanistische Gymnasium sie gewährt. Die moderne Bildung und Wissenschaft hat, und zwar in allen ihren Fächern, seit den frühsten Zeiten des Mittelalters an das Altertum angeknüpft, und insonderheit die Kulturentwickelung der letzten vier Jahrhunderte ist aus dem Humanismus, aus der Beschäftigung mit dem klassischen Altertum erwachsen: sie läßt sich ohne die unausbleibliche Folge der Verflachung von dieser ihrer Wurzel nicht lösen. Die historisch-klassische Vorbildung allein läßt den Einzelnen den Bildungsgang der Menschheit nacherleben und gewährt ihm, ganz abgesehen von den für die verschiedenen Fächer in verschiedenem Maße nötigen positiven Vorkenntnisse, diejenige idealistische und methodische Schulung, welche zur eigentümlich-wissenschaftlichen Geistesarbeit, im Unterschied von den niedern Stufen des Lernens, befähigt. Darum würde jede Beeinträchtigung des Charakters unsrer Gymnasien als der spezifischen Träger dieser historisch-klassischen Vorbildung, jede wesentliche Verkürzung der klassischen und historischen Bildungsmittel zu gunsten moderner und realistischer auf unsre Universitätsstudien und damit auf das geistige Gesamtleben unsers Volkes von unheilvollem Einfluß sein. Indem wir uns in der Aussprache dieser Überzeugungen geflissentlich auf die uns unmittelbar berührenden Anliegen beschränken, hoffen wir für dieselbe bei den bevorstehenden Beratungen um so mehr auf geneigtes Gehör.« Diese Erklärung hat sich nachträglich die Mehrzahl aller deutschen Universitätsprofessoren wörtlich oder doch dem Hauptinhalt nach angeeignet; wogegen eine nicht unerhebliche Minderzahl der akademischen Lehrer, namentlich der technischen Hochschulen, öffentlich die Gymnasialbildung als nicht ausreichend für die höhern Studien der mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Berufssphäre bezeichnete.

So stand die Angelegenheit, die immer lebhafter und teilweise leidenschaftlicher in der Presse verhandelt ward, als gegen Ende November eine wichtige Urkunde ans Licht trat, die, wie man nachträglich erfuhr, bereits seit Jahr und Tag die preußische Regierung beschäftigt hatte, nämlich eine der obigen vom 13. Febr. 1890 entsprechende

Allerhöchste Kabinettsorder

an das Staatsministerium.

Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischen Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und Liebe zum Vaterland die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber Ich kann Mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrtümer und Entstellungen mit vermehrtem Eifer verbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in der Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind. Sie muß die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstand ziehen und nachweisen, daß die Staatsgewalt allein dem Einzelnen seine Familie, seine Freiheit, seine Rechte schützen kann, und der Jugend zum Bewußtsein bringen, wie Preußens Könige bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwickelung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, von den gesetzlichen Reformen Friedrichs d. Gr. und von Aufhebung der Leibeigenschaft bis heute. Sie muß ferner durch statistische Thatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen Schutze sich verbessert haben. Um diesem Ziele näher zu kommen, rechne Ich auf die volle Mitwirkung Meines Staatsministeriums. Indem Ich dasselbe auffordern, den Gegenstand in weitere Erwägung zu ziehen und Mir bestimmte Vorschläge zu machen, will Ich nicht unterlassen, nachstehende Gesichtspunkte besonderer Beachtung zu empfehlen:

1) um den Religionsunterricht in dem angedeuteten Sinne fruchtbarer zu machen, wird es erforderlich sein, die ethische Seite desselben mehr in den Vordergrund treten zu lassen, dagegen den Memorierstoff auf das Notwendigste zu beschränken.

2) Die vaterländische Geschichte wird insonderheit auch die Geschichte unsrer sozialen und wirtschaftlichen Gesetzgebung und Entwickelung seit dem Beginn dieses Jahrhunderts bis zu der gegenwärtigen sozialpolitischen Gesetzgebung zu behandeln haben, um zu zeigen, wie die Monarchen Preußens es von jeher als ihre besondere Aufgabe betrachtet haben, der auf die Arbeit ihrer Hände angewiesenen Bevölkerung den landesväterlichen Schutz angedeihen zu lassen und ihr leibliches und geistliches Wohl zu heben, und wie auch in Zukunft die Arbeiter Gerechtigkeit und Sicherheit ihres Erwerbes nur unter dem Schutz und der Fürsorge des Königs an der Spitze eines geordneten Staates zu erwarten haben. Insbesondere vom Standpunkte der Nützlichkeit, durch Darlegung einschlagender Verhältnisse, wird schon der Jugend klargemacht werden können, daß ein geordnetes Staatswesen mit einer sichern monarchischen Leitung die unerläßliche Vorbedingung für den Schutz und das Gedeihen des Einzelnen in seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Existenz ist, daß dagegen die Lehren der Sozialdemokratie praktisch nicht ausführbar sind, und wenn sie es wären, die Freiheit des Einzelnen bis in seine Räumlichkeit hinein einem unerträglichen Zwange unterwerfen würden. Die angeblichen Ideale der Sozialisten sind durch deren eigne Erklärung hinreichend gekennzeichnet, um den Gefühlen und dem praktischen Sinne auch der Jugend als abschreckend geschildert werden zu können.

3) Es versteht sich von selbst, daß die hiernach der Schule zufallende Aufgabe nach Umfang und Ziel für die verschiedenen Stufen der Schulen angemessen zu begrenzen ist, daß daher den Kindern in den Volksschulen nur die einfachsten und leicht faßlichen Verhältnisse dargeboten werden dürfen, während diese Aufgabe für die höhern Kategorien der Unterrichtsanstalten entsprechend zu erweitern und zu vertiefen ist. Insbesondere wird es darauf ankommen, die Lehrer zu befähigen, die neue Aufgabe mit Hingebung zu erfassen und mit praktischem Geschick durchzuführen. Zu diesem Ende werden die Lehrerbildungsanstalten eine entsprechende Ergänzung ihrer Einrichtung erfahren müssen.