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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Italien

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Italien (Geschichte).

in Mailand im November, den man in I. allgemein als ein schmeichelhaftes Zeugnis für die angesehene Stellung des Landes im Rate der europäischen Mächte betrachtete, und der deshalb die ohnehin schon überwiegenden Sympathien für die Politik des Dreibundes noch vermehrte, stärkte Crispis Position, und diejenige seiner Gegner schwächte es, daß sie von dem in Frankreich naturalisierten italienischen Bankier Cernuschi eine große Summe als Beitrag zu den Wahlkosten annahmen, worin man den Versuch einer Einmischung des Auslandes erblickte; endlich hatten die überaus heftigen Angriffe, welche die Gegner des Ministerpräsidenten gegen diesen persönlich vorbrachten, vielfach das Gegenteil der erwarteten Wirkung erzielt. So war man denn wohl allgemein auf diesen Wahlsieg des Ministeriums vorbereitet; aber daß derselbe so glänzend ausfallen würde, wie es den Anschein hatte, wurde schwerlich von irgend jemand erwartet. Von 508 Deputiertenmandaten, welche in den 135 Wahlkreisen des ganzen Landes zu vergeben waren, fielen bei den allgemeinen Wahlen nicht weniger als 410 den Anhängern des Ministeriums zu, deren Zahl durch die Doppel- und Stichwahlen noch etwas vermehrt wurde; die Mitglieder der konstitutionellen (konservativen) Opposition zahlten nur 40, die Radikalen nur 37 Stimmen; 9 Abgeordnete wurden als von unbestimmter Parteistellung bezeichnet. Crispi selbst wurde viermal, in den vier größten Städten Siziliens, gewählt, und besonders auffallend war die Niederlage der Radikalen, die in Rom von fünf Mandaten nur eins, das durch das Wahlsystem der Minderheit vorbehalten war, erlangten und selbst in ihrer Hochburg Mailand zwei Sitze den Gemäßigten überlassen mußten. Das Land hatte sich unzweideutig vernehmlich zu gunsten der Friedens- und Ersparnispolitik der Regierung ausgesprochen, ein Ergebnis, das außer in Frankreich und Rußland in ganz Europa mit Genugthuung begrüßt wurde.

Am 4. Dez. wurden demnächst 75 neue Senatoren ernannt, wodurch auch im Senat, wo man der Regierung gelegentlich Schwierigkeiten bereitet hatte, deren Stellung noch weiter verstärkt ward; hervorragende Persönlichkeiten waren unter den neuen Senatoren nicht zahlreich vertreten. Am Vorabend des Zusammentritts der neuen Kammer, welcher 10. Dez. stattfand, vollzog sich noch eine Veränderung innerhalb des Ministeriums; der Schatzminister Giolitti, welcher sich mit dem Arbeitsminister Finali über die Höhe der an des letztern Budget vorzunehmenden Abstriche nicht hatte einigen können, nahm seine Entlassung; an seine Stelle trat als Finanzminister Grimaldi, der zugleich mit der einstweiligen Verwaltung des Schatzministeriums betraut wurde. Die Thronrede, mit welcher der König in eigner Person die Sitzungen des Parlaments eröffnete, betonte besonders die friedliche Lage Europas und die Ehrlichkeit der italienischen Kolonialpolitik, hob nachdrücklich hervor, daß er nach den Traditionen seines Hauses fest entschlossen sei, die Rechte des Staates kirchlichen Angriffen gegenüber zu wahren, und empfahl eine sparsame Finanz- und eine vorsorgende Sozialpolitik den Kammern auf das angelegentlichste.

Bei den Beratungen der Kammer zeigte sich nun aber alsbald in überraschender Weise, daß das anscheinend so glänzende Resultat der Wahlen die Stellung des Ministeriums keineswegs zu einer ganz sichern gemacht hatte. Zwar bis zu den Weihnachtsferien der Deputiertenkammer hielten die heterogenen Elemente, aus welchen die Mehrheit derselben sich zusammensetzte, aneinander fest; auf eine Interpellation Imbrianis über die Vorgänge, welche zur Entlassung der Minister Seismit-Doda und Giolitti geführt hatten, erhielt die Regierung mit 271 gegen 10 Stimmen ein Vertrauensvotum (19. Dez.), bei welchem nur die große Zahl der Stimmenthaltungen bedenklich machen konnte. Als aber die Sitzungen 20. Jan. 1891 wieder eröffnet wurden, veränderte sich die Stimmung bald. Ein von Crispi eingebrachter Gesetzentwurf über die Veränderung der Verwaltungsorganisation und die Verminderung der Zahl der Präfekturen erregte an allen den Orten, welche bisher Sitz einer Präfektur gewesen waren und dieselbe nun verlieren sollten, heftigen Widerstand, der in der Kammer naturgemäß sein Echo fand. Ebenso rief eine von den Abgeordneten Bonghi und Martini eingebrachte Gesetzvorlage über die Abschaffung des 1882 eingeführten Systems der Listenwahl und die Rückkehr zur Einzelwahl lebhafte Erörterungen hervor; Crispi sprach sich gegen die derzeitige Aufnahme dieser Frage aus, aber in den Kommissionen, welchen dieser Entwurf sowie der über die Gesetzvorlage wegen der Präfekturen überwiesen wurden, hatten die Gegner der von ihm entwickelten Ansichten die Mehrheit. Vor allem aber knüpfte die Opposition an die Finanzvorlagen der Regierung an. Der Finanzminister Grimaldi stattete 28. Jan. der Kammer seinen Bericht ab. Für das Jahr 1891/92 veranschlagte er den Fehlbetrag bei den effektiven Angaben auf etwa 27,5 Mill. Lire und bei den Kapitalbewegungen auf nahezu 11 Mill.; für das Jahr 1892/93 auf 30 und 13,3 Mill. Lire. Bei dieser Lage der Dinge kündigte er eine Reihe von Ersparnissen an, vor allem aber schlug er eine Erhöhung der Alkoholfabrikationssteuer und verschiedener Zölle und Abgaben vor, welche den durch die Ersparnisse nicht beseitigten Rest des Defizits decken sollte. Gleichzeitig brachte er Gesetzvorlagen ein, welche die Regierung zur provisorischen Erhebung der in Aussicht genommenen erhöhten Grenzzölle ermächtigten. Der Eindruck, den diese Vorlagen machten, war kein günstiger; in seiner Turiner Programmrede hatte Crispi fest versprochen, von neuen Steuern abzusehen; daß er jetzt zwar nicht ganz neue Steuern, aber die Erhöhung bestehender Abgaben vorschlug, wurde als ein Bruch dieser Versprechungen angesehen, und viele Abgeordnete, die sich ihren Wählern gegenüber auf das Turiner Programm verpflichtet hatten, wollten der Regierung auf diesem Wege nicht folgen. Selbst in einer Versammlung der Mehrheitsparteien, welche Crispi am Abend des 28. abhielt, die aber nur von etwa 170 Abgeordneten besucht war, machten sich vielfache Bedenken gegen die Regierungsvorlagen geltend. Die Schwierigkeit der Lage, in welcher sich die Regierung befand, suchte die Rechte auszunutzen; sie verlangte durch einen ihrer Führer, den Marchese di Rudini, Zugeständnisse von Crispi, welche dieser indessen ablehnte. So kam es zur Katastrophe. Noch in der Sitzung vom 30. Jan. erzwang Crispi bei der Beratung des Präfekturgesetzes ein Vertrauensvotum, das ihm mit 192 gegen 112 Stimmen erteilt wurde. Am folgenden Tage wurde über das Alkoholsperrgesetz beraten. Während der Debatte ließ sich Crispi zu einem leidenschaftlichen Angriff gegen die Rechte hinreißen, die er beschuldigte, in den Jahren 1866-74 eine im Innern verderbliche und nach außen (d. h. nach Frankreich) hin bis zur Knechtschaft willfährige Politik befolgt zu haben. Die heftigste Aufregung bemächtigte sich der Kammer; der Minister Finali, welcher dem letzten Kabinett Minghetti angehört hatte, verließ den Saal; Rudini schleu-^[folgende Seite]