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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Pädagogische Litteratur 1880-90

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Pädagogische Litteratur 1880-90 (philosoph. Pädagogik).

verwandten Benekeschen System, zum Teil angedeutet in den Fortschritten der philosophischen Forschung unsrer Tage nach der physiologischen wie nach der ethischen und gesellschaftlichen Seite hin. Willmanns eigne philosophische Grundansicht kommt nirgends zu einem kurzen, leicht wiedergebbaren Ausdruck, da er es mit Bewußtsein verschmäht, in systematischer Weise von philosophischen Voraussetzungen auszugehen, und in der eigentümlichen Verflechtung des philosophischen und des historischen Elements die wichtigste Aufgabe für die Pädagogik der Gegenwart erblickt. Der erste Band des bedeutenden Werkes enthält die einleitende Erörterung der leitenden Gesichtspunkte sowie der Beziehungen der Didaktik zur Sozialforschung, zur Geschichte der Bildung, zu den übrigen Zweigen der Pädagogik, zu den Fachwissenschaften. Daran schließt sich im ersten Abschnitt ein ausführlicher Überblick über die geschichtlichen Typen des Bildungswesens. Der zweite Band behandelt die Bildungszwecke, den Bildungsinhalt, die Bildungsarbeit, das Bildungswesen. Es kann hier weder der reiche Inhalt des Buches näher dargelegt noch das einzelne geprüft und beurteilt werden. Zu wünschen wäre, daß der geistvolle Verfasser etwas strenger gegen die pädagogische Zunftsprache sein und mithelfen wollte, diese von schiefen und sprach- oder denkfalschen Wendungen zu befreien, mit denen sie nicht ohne Mitschuld der Herbart-Zillerschen Richtung schwer belastet ist. Der Standpunkt des Verfassers inmitten der Wogen der Zeit spricht sich am Schlusse des Werkes in den Sätzen aus: Am weisesten hat die ältere christliche Anschauung und Sitte das Verhältnis der Bildungsarbeit zu den höhern Ordnungen, namentlich der Religion, bestimmt. Wenn unsre Altvordern dabei nur mit einem beschränkten Kreise von Kulturwerten gearbeitet haben, so ist nach dieser Richtung ein Hinausgehen über sie notwendig, aber es ist nicht gerechtfertigt, die festen Grundlagen zu verlassen, welche ihre Weisheit gelegt hat. Eine eingehende, auch vom Verfasser selbst anerkannte Charakteristik des Willmannschen Werkes gab O. Frick im 23. Hefte der »Lehrproben und Lehrgänge« (1890).

Eine ähnliche Stellung zu der schulmäßig entwickelten Form der Herbartschen Pädagogik wie Willmann nimmt E. v. Sallwürk ein. Noch entschiedener als jener bekennt er sich zu Herbart, dessen Pädagogik er nicht etwa für besser hält als die bisherigen Erziehungssysteme, sondern für die einzige Pädagogik, welche dem durch sie angeregten Bedürfnis wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen im stande ist. Dabei oder vielmehr gerade darum hat er es aber für Pflicht gehalten, gegen die einseitige Verbildung und Versteinerung der Herbartschen Pädagogik in der Zillerschen Schule kritisch sich zu verwahren. Er trat zunächst namenlos mit der Flugschrift »Herbart und seine Junger« (Langensalza 1880) auf; dann mit seinem Namen in den Schriften: »Handel und Wandel der pädagogischen Schule Herbarts« (das. 1885) und »Gesinnungsunterricht und Kulturgeschichte; zur pädagogischen Kritik« (das. 1887). Namentlich die letzte ist für die Beurteilung der schwebenden pädagogischen Fragen bedeutend. Sie beschäftigt sich mit einem Lieblingskapitel der neuern Herbartschen Pädagogik. Der Meister selbst hat den Unterricht, sofern er Umgang und Erfahrung der Kinder ergänzen, berichtigen, ordnen und so zur wahren, ästhetischen Würdigung der Welt anleiten soll, in die beiden großen Gebiete des Gesinnungsunterrichts (Religion, Geschichte, Sprache) und der Naturkunde (im weitern Sinn alles andre umfassend) eingeteilt, zwischen denen namentlich die Erdkunde als associierendes Fach vermittelt. Er verlangte ferner, daß der Unterricht auf jeder Stufe trotz der Mannigfaltigkeit der Lehrfächer eine Einheit bilden sollte. Das kann nach Herbart nur geschehen, wenn das Mannigfaltige auf einen herrschenden Mittelpunkt bezogen und um ihn in sachgemäßer Stufenfolge gruppiert wird. Der Mittelpunkt selbst darf nach einer Pädagogik, der Charakterstärke der Sittlichkeit als oberstes Ziel der Erziehung gilt, nur im Gesinnungsunterricht, und zwar zunächst in dessen eigentlichem Kerne, dem Religionsunterricht, gefunden werden. Für die Auswahl der Konzentrationsstoffe wird nun der Gedanke zum Grundsatz erhoben, daß die Bildung des einzelnen Menschen ein Abbild des stufenweisen Emporsteigens der Menschheit überhaupt sei und naturgemäß sein solle. Man kann da eine gewisse Analogie zugeben. Wenn Herbart die Homerischen Gedichte als grundlegende Jugendlektüre deshalb preist, weil sie das Bild eines kindlich einfachen Volkslebens entrollen, so wird kaum jemand widersprechen. Aber was entsteht daraus, wenn dieser Gedanke bis zum äußersten gepreßt und überspannt wird! Ziller und seine Schule wollen ihm zuliebe die acht Schuljahre der einfachen Volksschule um Märchen, Robinson, Patriarchen, Richter und Könige, Leben Jesu, Apostelgeschichte, Einführung des Christentums, Reformation gruppieren und in gelehrten Schulen mit diesen im wesentlichen der heiligen Geschichte entnommenen Konzentrationsstoffen andre aus der Weltgeschichte entnommene naturgemäß zusammenfassen. Ein geistvoller und besonnener Lehrer mag auch auf diesem Wege zum Ziele gelangen. Aber er beruht in seinen einzelnen Wendungen auf dogmatischem Wahne und nutzloser Künstelei und verläßt ohne Not die vorhandene, gebahnte Straße; auch bringt er, wenn die Führung auf ihm minder erfahrenen oder gar fanatisch einseitigen Lehrern anvertraut ist, geradezu ernste Gefahren. Sallwürk räumt deshalb mit dem Trugbild der kulturhistorischen Stufen gründlich auf, aber immer als guter, aufrichtiger Herbartianer mit der Überzeugung, daß von dem ganzen Gebäude nach Abtrag der barocken Anhängsel ein wertvoller Kern übrigbleiben werde. Denn ein geschichtlich angeordneter Gesinnungsunterricht scheint auch ihm ein Bedürfnis für jede Art von Schulen zu sein; aber er muß befreit werden von der Künstelei, von der dogmatischen Illusion der Zillerschen Schule.

Eine weit schärfere Tonart gegenüber der Herbartschen Schule haben andre Kritiker angeschlagen, die mit dem Ausbau zugleich die philosophische, namentlich psychologische Grundlage verwerfen. Vor allen sind zwei Angreifer dieser Art zu erwähnen. Fr. Dittes, ein alter litterarischer Gegner Zillers und seiner Schule, hatte in seinen Organen, dem Wiener »Pädagogium« und dem »Pädagogischen Jahresbericht«, auch während der letzten Jahre an den manchmal recht selbst- und siegesbewußt auftretenden Herbartianern der Zillerschen Färbung strenge Kritik geübt und namentlich auf Benekes hinter Herbart allzusehr zurückgeschobene Psychologie und Erkenntnistheorie als auf eine weit geeignetere Grundlage für die pädagogische Kunstlehre hingewiesen. Im Jahrgang 1884/85 des »Pädagogiums« nun legte er seine Bedenken gegen die theoretische und praktische Philosophie wie gegen die gesamte Pädagogik Herbarts und seiner Jünger im Zusammenhang darin einem Aufsatz: »Zur sogenannten wissenschaftlichen Pädagogik«. Es geschah aus Anlaß des oben erwähnten Fröhlichschen Buches