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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Psychologie

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Psychologie (Forschungsgebiete).

Lebensabend sprechen. Vgl. Avenarius, Philosophie als das Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes (Leipz. 1876); Steinthal, Grammatik, Logik und P. (Berl. 1855); Bruchmann, Psychologische Studien zur Sprachgeschichte (Leipz. 1888).

7) Kinderpsychologie. Die Erforschung des kindlichen Seelenlebens in seiner allmählichen Ausbildung hat zu wertvollen Ergebnissen über die Elemente unsrer psychischen Struktur geführt und unter anderm gezeigt, daß logisches Denken bereits in der Zeit vor dem Sprechenlernen sich vollzieht, aber wesentlich durch Bildungsvorgänge in der Gefühls- und Triebsphäre bedingt ist. Beobachtung und reines Experiment, welche beide bisher fast ausschließlich angewendet worden sind (vgl. Preyer, Die Seele des Kindes, 3. Aufl., Leipz. 1890), müßten freilich durch das numerische Experiment so ergänzt werden, daß über das Gedächtnis etc. in den verschiedenen Lebensaltern des lernenden Kindes genaue Daten vorliegen, wodurch wir natürlich noch nicht zu einer ebensolchen genauen Bestimmung der geistigen Fähigkeiten wie der Körperlänge und -Schwere gelangen. Im übrigen hat sich bereits Erforschung, Erweiterung und Verwertung der kindlichen Erfahrung sowohl für den Gang der gesamten Erziehung als auch im einzelnen für Auswahl und Anordnung des Lehrstoffes von Nutzen erwiesen. Vgl. Baumann, Pädagogische P. (Leipz. 1890); Lange, Über Apperzeption (3. Aufl., Plauen 1889); L. Strümpell, Pädagogische Pathologie (Leipz. 1890).

8) Tierpsychologie. Insoweit sie nicht mit der Psychogenesis (Nr. 1) zusammenfällt, hat sie einerseits mit dem ungenügenden, meist anekdotenhaften Material, anderseits mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die einfachen Thatsachen möglichst wenig nach Analogie des Menschen aufzufassen. Aus letzterm Grunde wird z. B. gewöhnlich der Schmerz der Tiere in sentimentaler Weise überschätzt. Die beiden Hauptprobleme der Tierpsychologie sind: a) der Instinkt. Begriffsbestimmung und Erklärung desselben sind noch durchaus nicht zur Klarheit gelangt (vgl. Forel, Les fourmis de la Suisse, Genf 1874; Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich, Leipz. 1885). b) Ausdehnung des Bewußtseins. Haben alle, oder welche Tiere haben Bewußtsein? (s. d.) Ein Teil von Forschern ist geneigt, in der willkürlichen Hemmung der Reflexbewegungen das Zeichen des Bewußtseins zu sehen; ihnen zufolge stellt der Reflex die Grundfunktion der Nervenzentra dar, ist nur gelegentlich von dem Epiphenomenon des Bewußtseins begleitet und nur dann mit Sicherheit, wenn er willkürlich verlangsamt oder gehemmt wird. Erst da, wo in der Tierreihe psychische Reflexe und Reflexhemmungen auftreten, soll das Seelenleben beginnen (vgl. Richet, Les réflexes psychiques in der »Revue philosophique«, 1889). Diesem panzoologischen Standpunkt tritt die pananthropologische Auffassung gegenüber, welche den bewußtseinsfreien Reflex gar nicht gelten lassen will, sondern sogar bei den untersten Tieren (Binet, The psychic life of microorganisms, Chicago 1890) oder selbst schon bei der biologisch als einseitig entwickeltes Tier anzusehenden Pflanze eine Art Seelenleben finden will. Das Bewußtsein sei nicht ausschließlich an die obersten Teile des Gehirns oder überhaupt an ein Gehirn gebunden. Wir müssen dem Protoplasma sowie allen, doch nichts wie Protoplasma darstellenden Nervenzellen Bewußtseinsfähigkeit zusprechen, deren aktuelles Bewußtsein einesteils von der Erweckung durch äußere Reize abhängt, andernteils durch ein Hemmungsvermögen der obern Hirnteile in seinen Erscheinungen unterdrückt werden kann (vgl. Meynert, Gehirn und Gesittung, Wien 1889; Schneider, Der tierische Wille, Leipz. 1880).

9) Rechtspsychologie. Sie gehört halb zur Völkerpsychologie, nämlich insofern sie sich mit der psychologischen Entstehung und Bedeutung des Rechtes und der Rechtsbegriffe beschäftigt. Willenserklärung, Irrtum, Handlungsfähigkeit, Deliktsfähigkeit und ähnliche Begriffe werden von ihr untersucht. Zur andern Hälfte kann sie als eine selbständige Disziplin betrachtet werden, nämlich insofern sie in das Strafrecht eintritt; die Kriminalpsychologie erforscht Komplexe wie Schuld, Sühne, Strafe, Zurechnung (Zurechenbarkeit der Handlung, Zurechnungsfähigkeit der Person), kurz, das Wollen in allen seinen konstitutiven Bedingungen und in seinen Ausstrahlungen bis zur Verneinung und Aufhebung. Neuerdings hat sich hier eine Richtung entwickelt, welche sich selbst die kriminal-anthropologische Schule nennt und ein neues Strafrechtssystem verlangt, von dem die bedeutendsten deutschen Theoretiker und Praktiker indessen noch nichts wissen wollen. Danach existiert eine Gruppe geborner, durch erbliche Degeneration verkümmerter Defektmenschen, bei welchen die Entwickelungshemmung vornehmlich durch den Mangel aller sittlichen Vorstellungen und durch das ausschließliche Vorwalten rohester egoistischer Gefühlsthätigkeit sich kundgibt. Das sind die Gewohnheitsverbrecher, und ihre wichtigsten Zeichen auf psychischer Seite sind: a) unmotivierter plötzlicher Stimmungswechsel, b) schwere Krampfzustände, c) Bewußtseinsstörungen mit darin auftretenden unsinnigen und Gewalthandlungen. Vgl. Lombroso (s. d.), Der Verbrecher (Hamb. 1889-90, 2 Bde.); »Archives d'anthropologie criminelle«, 1890.

10) Pathopsychologie. Das pathologische Experiment, welches die Natur anstellt, indem sie eine geistige Krankheit hervorruft, bietet ein wichtiges Erfahrungsmaterial für die P., denn die Geisteskrankheiten bedeuten meistens eine Dissociation der psychischen Funktionen durch Herabsetzung oder Übertreibung gewisser normaler Prozesse. Daher bildet die Pathopsychologie die Grundlage der Psychiatrie, abgesehen davon, daß letztere als klinische Wissenschaft auch die körperlichen Vorgänge im Gehirn zu berücksichtigen hat (pathologische Hirnanatomie). So hat z. B. die Widerlegung der Seelenvermögenslehre dazu geführt, daß man die Vorstellung einzelner Manien (Pyromanie etc.) bei sonst unversehrter Geisteskraft aufgeben mußte. Vgl. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie (4. Aufl., Stuttg. 1890).

11) Okkultismus. Mit diesem sehr schlechten, aber durch keinen bessern zu ersetzenden Namen soll das Gebiet derjenigen psychischen Erscheinungen bezeichnet werden, welche aus dem gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens heraustreten, ohne doch schon der Pathologie anheimzufallen. Gemeint sind (Traum), Hypnose, Ekstase, (Gedankenübertragung, Hellsehen) etc. Ja der Untersuchung dieser erst seit kurzem dem Aberglauben entrissenen Phänomene stehen sich zwei Parteien gegenüber. Die eine (Moll, Dessoir u. a.) versucht durch schärfste Prüfung die wirklichen Thatsachen auszumitteln, sie in Verbindung mit den übrigen von der wissenschaftlichen P. behandelten Vorgängen zu bringen und ihre Gesetze festzustellen (vgl. Moll, Der Hypnotismus, 2. Aufl., Berl. 1890). Die andre Richtung (Hellenbach, du Prel u. a.) ist wesentlich von metaphysisch-religiösen Gesichtspunkten geleitet; sie will aus den erstaun-^[folgende Seite]