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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Arbeiterschutzgesetzgebung (das deutsche Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891)

Mit Zustimmung eines ständigen Arbeiterausschusses können in die Arbeitsordnung Vorschriften über das Verhalten der Arbeiter bei Benutzung der zu ihrem Besten getroffenen, mit der Fabrik verbundenen Einrichtungen sowie Vorschriften über das Verhalten der minderjährigen Arbeiter außerhalb des Betriebs aufgenommen werden (§ 134 b). Der Inhalt der Arbeitsordnung ist, soweit er den Gesetzen nicht zuwiderläuft, für die Arbeitgeber und Arbeiter rechtsverbindlich. Andre als die in der Arbeitsordnung oder in § 123 und 124 vorgesehenen Gründe der Entlassung und des Austritts aus der Arbeit dürfen im Arbeitsvertrag nicht vereinbart werden. Andre als die in der Arbeitsordnung vorgesehenen Strafen dürfen über den Arbeiter nicht verhängt werden. Die Strafen müssen ohne Verzug festgesetzt und dem Arbeiter zur Kenntnis gebracht werden. Die verhängten Geldstrafen sind in ein Verzeichnis einzutragen, welches den Namen des Bestraften, den Tag der Bestrafung sowie den Grund und die Höhe der Strafe ergeben und auf Erfordern dem in § 139 b bezeichneten Beamten (d. h. den Aufsichtsbeamten für Fabriken, resp. den ordentlichen Polizeibehörden) jederzeit zur Einsicht vorgelegt werden muß (§ 134 c).Vor dem Erlaß der Arbeitsordnung oder eines Nachtrags zu derselben ist den in der Fabrik oder in den betreffenden Abteilungen des Betriebs beschäftigten großjährigen Arbeitern Gelegenheit zu geben, sich über den Inhalt derselben zu äußern. Für Fabriken, für welche ein ständiger Arbeiterausschuß besteht, wird dieser Vorschrift durch Anhörung des Ausschusses über den Inhalt der Arbeitsordnung genügt (§ 134 d). Die Arbeitsordnung sowie jeder Nachtrag zu derselben ist unter Mitteilung der seitens der Arbeiter geäußerten Bedenken, soweit die Äußerungen schriftlich oder zu Protokoll erfolgt sind, binnen 3 Tagen nach dem Erlaß in zwei Ausfertigungen unter Beifügung der Erklärung, daß und in welcher Weise der Vorschrift des § 134 d genügt ist, der untern Verwaltungsbehörde einzureichen. Die Arbeitsordnung ist an geeigneter, allen beteiligten Arbeitern zugänglicher Stelle auszuhängen. Der Aushang muß stets in lesbarem Zustand erhalten werden. Die Arbeitsordnung ist jedem Arbeiter bei Eintritt in die Beschäftigung zu behändigen (§ 134 e). Arbeitsordnungen und Nachträge zu denselben, welche nicht vorschriftsmäßig erlassen sind, oder deren Inhalt den gesetzlichen Bestimmungen zuwiderläuft, sind auf Anordnung der untern Verwaltungsbehörde durch gesetzmäßige Arbeitsordnungen zu ersetzen oder den gesetzlichen Vorschriften entsprechend abzuändern. Gegen diese Anordnung findet binnen 2 Wochen die Beschwerde an die höhere Verwaltungsbehörde statt (§ 137 f). Arbeitsordnungen, welche vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erlassen worden sind, unterliegen den Bestimmungen der Paragraphen 134a—134c, 134e, Abs. 2, 134f und sind binnen 4 Wochen der untern Verwaltungsbehörde in zwei Ausfertigungen einzureichen. Auf spätere Abänderungen dieser Arbeitsordnungen und auf die seit 1. Jan. 1891 erstmalig erlassenen Arbeitsordnungen finden die Paragraphen 134d und 134e, Abs. 1 Anwendung (§ 134 g). — Den Unternehmern von Fabriken, in welchen in der Regel mindestens 20 Arbeiter beschäftigt werden, ist untersagt, für den Fall der rechtswidrigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeiter die Verwirkung des rückständigen Lohnes über den Betrag des durchschnittlichen Wochenlohns hinaus auszubedingen (§ 134, Abs. 2).

4) Verbessert und verschärft sind die Bestimmungen zur Verhinderung des Trucksystems (§ 115—119b). Es dürfen insbesondere jetzt auch dann, wenn den Arbeitern vom Arbeitgeber unter Anrechnung bei der Lohnzahlung Wohnung, Landnutzung, Werkzeuge, Stoffe, Feuerung etc. verabreicht werden, die dafür angerechneten Beträge für Wohnung und Landnutzung die ortsüblichen Miet- und Pachtpreise, für Werkzeuge, Stoffe, Feuerung etc. die durchschnittlichen Selbstkosten nicht übersteigen, ausgenommen für Werkzeuge und Stoffe bei Akkordarbeiten, sofern der höhere Preis den ortsüblichen nicht übersteigt und im voraus vereinbart ist. Die Hauptbestimmung (§ 115) lautet: »Die Gewerbtreibenden sind verpflichtet, die Löhne ihrer Arbeiter in Reichswährung zu berechnen und bar auszuzahlen. Sie dürfen den Arbeitern keine Waren kreditieren. Doch ist es gestattet, den Arbeitern Lebensmittel für den Betrag der Anschaffungskosten, Wohnung und Landnutzung gegen die ortsüblichen Miet- und Pachtpreise, Feuerung, Beleuchtung, regelmäßige Beköstigung. Arzneien und ärztliche Hilfe sowie Werkzeuge und Stoffe zu den ihnen übertragenen Arbeiten für den Betrag der durchschnittlichen Selbstkosten unter Anrechung bei der Lohnzahlung zu verabfolgen. Zu einem höhern Preise ist die Verabfolgung von Werkzeugen und Stoffen für Akkordarbeiten zulässig, wenn derselbe den ortsüblichen nicht übersteigt und im voraus vereinbart ist.« Ausdrücklich ist (§ 119 b) bestimmt, daß die Truckvorschriften auch für solche hausindustriellen Arbeiter gelten, welche selber die Roh- und Hilfsstoffe beschaffen.

5) Bezüglich der Lohnzahlung sind noch weitere Schutzbestimmungen erlassen. Es dürfen Lohn- und Abschlagszahlungen nicht ohne Genehmigung der untern Verwaltungsbehörde in Gast- und Schankwirtschaften erfolgen, und sie dürfen nicht an Dritte erfolgen auf Grund von Rechtsgeschäften oder Urkunden über Rechtsgeschäfte, welche nach § 2 des Gesetzes, betr. die Beschlagnahme des Arbeits- oder Dienstlohns vom 21. Juni 1869, rechtlich unwirksam sind (§ 115 a). Ferner kann durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weitern Kommunalverbandes für alle Gewerbebetriebe oder gewisse Arten derselben festgesetzt werden: a) daß Lohn- und Abschlagszahlungen in festen Fristen erfolgen müssen, welche nicht langer als einen Monat und nicht kürzer als eine Woche sein dürfen; b) daß der von minderjährigen Arbeitern verdiente Lohn an die Eltern oder Vormünder und nur mit deren schriftlicher Zustimmung oder nach deren Bescheinigung über den Empfang der letzten Lohnzahlung unmittelbar an die Minderjährigen gezahlt wird; c) daß die Gewerbtreibenden den Eltern oder Vormündern innerhalb gewisser Fristen Mitteilung von den an minderjährige Arbeiter gezahlten Lohnbeträgen zu machen haben (§ 119a, Abs. 2). Weil eine allgemeine gesetzliche Durchführung bestimmter Fristen für die Auslöhnung, um den Übelstand zu langer Zahlungstermine zu verhindern, bei zahlreichen großen Unternehmungen auf kaum zu überwindende Schwierigkeiten stoßen würde, so wurden darauf gerichtete Anträge in der Kommission und im Reichstag abgelehnt, aber man wollte doch durch die Bestimmung zu a) gesetzlich die Möglichkeit gewähren, lokal, wo das Bedürfnis vorhanden sei, dem Übelstand zu begegnen. Die Bestimmung zu b) und c) will dem Leichtsinn und der Verschwendung minderjähriger Arbeiter entgegentreten und zugleich die elterliche Autorität gegenüber denselben schützen und stärken. Die Regierungs-