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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Brief (die Briefform in der Litteratur)

danken von deutschen Briefen« und andre Werke, obgleich sie ebensowenig wie die spätern Schriften Benjamin Neukirchs einen wirklichen Fortschritt bedeuten. Das Äußere des Briefes verändert sich in dieser Epoche insofern, als der Gruß am Anfang allmählich abkommt und nur die Anrede gesetzt wird; als Pronomen der Anrede tritt jetzt das Sie auf; die Empfehlung in Gottes Schutz weicht höflichen Komplimenten, die meist mit der Unterschrift verbunden sind; das Datum, das früher nur unter dem Brief stand, wird jetzt auch oft zu Anfang gesetzt. Das Papier wird feiner, das große Format wird für offizielle Schreiben gebraucht, sonst ist ein Quartformat üblich. Als Verschlußmittel kommt statt des Wachses der Siegellack auf.

Die notwendige Besserung des Briefstiles trat erst im zweiten Drittel des 18. Jahrh. im Zusammenhang mit der durchgreifenden Änderung im ganzen Geistesleben der Nation ein. Eine neue gebildete und natürliche Sprache beginnt in den Briefen zu herrschen, als erste Repräsentantin dieses neuen Stiles darf die Jungfer Kulmus, die spätere Frau Gottsched, angesehen werden. Um die Mitte des Jahrhunderts wird dann auch theoretisch eine Reform verfochten. Gellert trat 1751 mit einer Sammlung wirklich geschriebener Briefe hervor, der er eine »Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen« voranschickte; die »Grundsätze wohleingerichteter Briefe« von Stockhausen kommen daneben nicht in Betracht. Gellert drang vor allen Dingen auf eine natürliche Schreibart, und in seinem reichen Briewerkehr suchte er sie auch zu bethätigen. Sein Beispiel wirkte auch ungemein; die Gellertsche Schreibart (neben ihm ist noch Rabener zu nennen) war bald die Schreibart des ganzen gebildeten Publikums. Sie war leicht und gefällig, vor allen Dingen ohne Fremdwörter, aber doch noch weitschweifig, wässerig und oft affektiert. Die Unsitte der französischen Briefe blieb in den vornehmen Kreisen freilich noch lange bestehen; die Adressen, auch der deutschen Briefe, blieben bis in unser Jahrhundert in der Regel französisch. Dagegen geht die lateinische Korrespondenz der Gelehrten sehr zurück. In eine neue Phase trat die Entwickelung des deutschen Briefstiles in der Sturm- und Drangperiode. Man sprach von Gellertschem Gewäsch und suchte das Prinzip der Natürlichkeit in äußerster Übertreibung durchzuführen. Formlosigkeit, Lakonismus, Derbheit, oft dialektische Schreibweise charakterisieren die Briefe der jungen Leute. Am meisten änderte aber den Stil der seit langem vorbereitete Durchbruch des Gefühlslebens. Für die Aufgeregtheit des Stiles sind die zahlreichen Ausruf- und Fragezeichen bemerkenswert. Die übertriebene Empfindsamkeit änderte auch Ton und Inhalt der Briefe. Sie sollten ein Abdruck der Seele sein; nur Briefe voll Empfindung und Gefühl schienen den damaligen Menschen die rechten Briefe zu sein. Wertvoll ist aber die neue Entwickelung namentlich dadurch, daß jetzt eine vollendete Individualität des Briefstiles erreicht ist. Hervorragend individuelle Briefschreiber sind Lessing, Merck, Claudius, Lichtenberg, Lavater, Goethe. Nachdem sich das aufgeregte Treiben beruhigt hatte, Zeigt sich der deutsche B. so auf seiner Höhe. Ganz ausgezeichnete Briefe stammen namentlich von Frauen; Beispiele bieten diejenigen Eva Königs, Charlotte Schillers und die der originellen Frau Rath, der Mutter Goethes. Gleichzeitig gelangt der Briefverkehr zu einer neuen Steigerung. Das 18. Jahrh. ist das Jahrhundert des Briefes; es wird ein wahrer

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Briefkultus getrieben. Überall treffen wir fleißige Briefschreiber, dabei werden die Briefe selbst ungeheuer lang; bei manchen ist eine wahre Briefwut zu erkennen. Der freundschaftliche Briefverkehr namentlich ist geradezu ein allgemeines Lebensbedürfnis geworden; man sucht überall Korrespondenten. Oft kennen sich langjährige Brieffreunde gar nicht persönlich.

Briefe wurden ein wichtiges Dokument zur Beurteilung der Menschen, nach Briefen verliebte man sich sogar. Man gab sich daher außerordentliche Mühe, da man sich gewöhnte, jeden B., auch von unbekannten Absendern, zu kritisieren. Das führte teilweise zu einer Effektschreiberei. Um die Briefe hervorragender Leute mühle man sich sehr; sie wurden oft massenhaft, z. B. diejenigen Gellerts, durch Abschriften, oft auch durch den Druck verbreitet.

Das Äußere der Briefe änderte sich auch in dieser Epoche. Das Papier wird feiner, das Format ist in der Regel Quart. Umschläge (Kouverts) kommen häufiger als früher vor, doch blieb das Falten der Briefe noch bis zur Mitte unsers Jahrhunderts eine Kunst, die jeder lernen mußte. Die Adresse ist einfach und kurz geworden, ohne die früher üblichen langen Zusätze.

Die Art der Briefe des 18. Jahrh. dauerte bis in die 40er Jahre unsers Jahrhunderts. Die langen Briefergüsse blieben beliebt, ebenso die Offenheit und Traulichkeit des persönlichen Verkehrs. Empfindung und Geist suchte jeder in seine Briefe hineinzulegen.

Seit 1848 trat dann eine starke Änderung ein. Der Umschwung im Verkehrsleben, die rasche Verbindung durch Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphen, die rastlose Geschäftigkeit der Neuzeit beeinflußte den Briefverkehr. Kürze wird die Seele des Briefes. Unsre Zeit charakterisiert die Postkarte mit ihrer Kürze und Bequemlichkeit. Charakteristisch ist sie namentlich auch als Ausdruck dafür, wie wir aus unsern Briefen immer mehr die früher so wertvollen Äußerlichkeiten und Formalien verbannen. Die Postkarte wieder wird übertroffen durch das Telegramm. Die einfache Vergleichung eines Glückwunschtelegramms und eines Glückwunschbriefes aus dem 17. oder 18. Jahrh. zeigt, wie sehr sich die Zeit geändert hat. Vgl. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes (Berl. 1889-91, 2 Bde.).

Die Briefform in der Litteratur.

Sobald die Briefschreibekunst eine besondere Pflege genießt, bemächtigt sich auch die Litteratur der Brief: form, um beliebige Stoffe zwanglos zu behandeln. Bei den Griechen der spätern Zeit sind fingierte Briefe, zumal die Sophistik diese Form sehr bevorzugte, nicht selten. Der Rhetor Lesbonax, der zur Zeit des Kaisers Augustus lebte, verfaßte erotische Briefe. Später schrieb Melesermos aus Athen 14 Bücher Hetärenbriefe, ferner Briefe von Landleuten 2c. Von Alkiphron existieren Briefe von Fischern, Landleuten, Hetären, die ein treffliches Bild des damaligen Lebens in Athen geben. In den erotischen Briefen des Aristänetos tritt die Briefform fast ganz zurück. Übrigens lieben es die griechischen Romanschreiber, Briefe häufig in ihre Romane einzufügen. Bei den Römern findet man zunächst den didaktischen, poetischen B. Am meisten ragen des Horaz Episteln und des Ovid Herolden und Tristien hervor. Auch Lucilius und Catull verwenden die Form hin und wieder. In prosaischen fingierten Briefen wurden ebenfalls mannigfache Stoffe behandelt. Lehrhafte Tendenz haben Catos Briefe an seinen Sohn; in Briefform wurden ferner juristische, medizinische, politische und litterarische Gegenstände behandelt. Die Verwendung der Briefform zu didak-