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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Gemeinden in Piemont (Sprachinseln)

Die Häuser sind im Gegensatze zu den italienischen Steinhäusern sämtlich aus Holz, und zwar sieht man hier überall im Gegensatze zum alemannischen das typische Burgunderhaus. Von Pommat wanderten deutsche Burgunder nach Tessin hinüber und gründeten dort Bosco oder Gurin mit 350 Einw., die einzige Gemeinde im ganzen Kanton, welche deutsch ist. Mit der Kolonisation des obern Tosathals hingen auch die kleinen Orte Saley und Ager, südöstlich von Pommat, zusammen, in denen aber das Deutschtum nur ein kümmerliches Dasein fristet. Südlich von Domo d'Ossola liegen die Orte Premosello (Pretzmilch), Migiandone und Ornavasso, das letzte nur 7 km vom Lago Maggiore, die sämtlich früher ebenfalls deutsch waren, aber bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert verwelscht sind. Um den Ost- und Südabhang des Monte Rosa liegen sieben deutsche Gemeinden: die beiden Gressoney und Issime (mit Gabi) im Lysthal; Alagna, Rima, San Giuseppe und Rimella im obern Thal der Sesia und deren Nebenbächen; Macugnaga (mit Burca und Pescarena) im Ansascathal. Die Gesamtbevölkerung dieser sieben Gemeinden betrug Ende 1878 5172 Seelen. Macugnaga am Ostfuß der höchsten Gipfel der Monte Rosa-Gruppe hat 720 Einw., deren Vorfahren aus dem Saaserthal einwanderten. Berge und Flurnamen sind fast ausschließlich deutsch, ebenso die meisten Namen der zahlreichen den Ort umgebenden Weiler. Macugnaga ist Sammelname für die sechs Ortschaften Pescarena, Burca, In der Stapf, Zum Strich, Auf der Riva, Zertannen. In dem untersten Weiler, Pescarena, ist das Deutsche ganz, in Barca größtenteils verschwunden. In den übrigen Dörfern dagegen sind Sprache, Holzbau und Frauentracht noch deutsch. Bis in die Mitte unsers Jahrhunderts hinein waren Predigt und Christenlehre deutsch, die Schulsprache wurde freigestellt, deutsch oder italienisch. Jetzt ist nur noch die Kinderlehre deutsch, doch lehren vielfach die Eltern ihre Kinder zu Hause deutsch lesen und schreiben. Durch das Kratzer- oder Quarazzathal über das Thürle oder den Thurlopaß und über die Alp Faller führt der Weg ins obere Sesiathal nach Alagna, dessen Haupthäuserkomplex Mittelsheil heißt. Von den 697 Einw. wanderten von jeher viele aus, um als Maurer, Steinhauer, Gipsarbeiter, Stukkateure zu arbeiten, und kehrten erst im vorgerückten Alter heim. Früher ging der Zug der Leute ausschließlich in die deutsche Schweiz und ins Elsaß, aber schon seit längerer Zeit hat derselbe sich fast gänzlich nach Frankreich gewandt. Jetzt ist der Ort eine vielbesuchte italienische Sommerfrische, die italienische Sprache nimmt daher mehr und mehr zu, bis sie über kurz oder lang die allein herrschende sein wird. Schule und Kirche sind italienisch; in Pommat und Macugnaga sprechen die Frauen den alten Dialekt noch am reinsten, die Männer aber ziehen fast allgemein das Französische oder Italienische oder eine wunderbare Mischung beider vor. Issime hat noch deutsche Volkssprache beim alten Geschlecht, Schule und Kirche sind aber französisch. Dasselbe gilt von Gabi. Rimella mit seinen 1100 Einw. und seinen nach Walliser Art gebauten Holzhäusern war ehemals rein deutsch. Jetzt wird zwar wegen der ältern Leute noch deutsch gepredigt, aber die Schule ist schon seit 1829 italienisch. Die Rimellesen oder Remmeljarolit wandern seit Menschengedenken als Köche und nur als solche aus und finden sich in dieser Eigenschaft in allen Orten Italiens. Die nächste Generation wird wahrscheinlich rein italienisch

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sein, wie das in Rima mit italienischer Schule und Kirche bereits der Fall ist. Am besten hat die deutsche Sprache sich in den beiden Gressoneys erhalten, im engen Thal des Lysbach, dem westlichsten, schönsten und interessantesten dieser deutschen Thäler. Von dem 1637 m ü. M. gelegenen Gressoney la Trinite erreicht man in dem lieblichen Alpenthal, dessen Einzelstufen freundliche Weiler und Dörfchen mit stattlichen Holzbauten tragen, über Palmen, Viel, Steinmatten u. a. das zweite Kirchdorf Gressoney St. Johann (1305 m), beide zusammen mit 2400 Einw. Als Krämer, Maurer, Steinhauer, Zuckerbäcker ziehen die Einwohner weithin in das deutsche Land, um dort ihr Brot zu suchen. Zahlreiche Gressoneyer sind Besitzer hochangesehener Kaufmannshäuser in Luzern, Zürich, Winterthur, Frauenfeld, St. Gallen, Lindau, Kempten, Augsburg, Offenburg, Konstanz. Meist suchen sie während der kurzen, schönen Sommermonate die Heimat auf, weilen sonst aber im Ausland. Ihre Frauen nehmen sie auch aus der Heimat. Die Alten, die vom Geschäft zurücktreten, ziehen endgültig in ihr Alpenthal zurück und übergeben ihren Söhnen die ererbten Handelshäuser. Es ist ein schöner, blonder, fleißiger und tüchtiger Menschenschlag, der vortreffliche Soldaten liefert, während es im nahen kropfreichen Aostathal ganze Dörfer gibt, die jahrelang keine Rekruten stellen. Der alte deutsche Dialekt hat sich außer in den beiden Gressoney auch in den Weilern Trento, Niel und St. Jaques erhalten, während er in Gaby dem Französischen unterlegen ist. Dies ist auch die Sprache der Kirche, welche unter dem Bischof von Aosta steht, während in der Schule zugleich italienisch und deutsch gelehrt wird. Deutsch sind die Gemeinderatssitzungen, deren Protokolle aber italienisch abgefaßt werden müssen, ebenso sind fast alle Familien-, Orts- und Bergnamen deutsch, so großes und kleines Rothorn, Grauhaupt, Vogelberg, Kalberhorn, Freudenhorn, Stallerborn, ferner Unterwald, Grasmatten, Bösmatten, Stein, Lohmatten, Lohalp u. a. Die Ansiedelungen im Lysthal sind bereits vor dem 13. Jahrh., die übrigen meist in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts von Wallis aus begründet worden. Der Entdecker der Deutschen am Monte Rosa ist Saussure, der 1789 drei Gemeinden besuchte; 1822 fügte Freiherr v. Welden jene von Rima hinzu, 1836 fand Max Schottky das deutsche Issime, 1840 Albert Schott noch Gabi zu drei Vierteln, die beiden Gressoney, Issime, Rima, Rimella, Macugnaga und Alagna noch ganz deutsch. Doch ist das allmähliche Eingehen des Deutschtums bei allen Zu erwarten. Vgl. Saussure, Voyages dans les Alpes, Bd. 8 (Neuchâtel 1796); v. Welden, Der Monte Rosa (Wien 1824); M. Schottky, Das Thal von Rimella und seine deutschen Bewohner (»Ausland« 1836, Nr. 92 u. 95); A. Schott, Die Deutschen am Monte Rosa (Zürich 1840); Derselbe, Die deutschen Kolonien in Piemont, ihr Land, ihre Mundart und ihre Herkunft (Stuttg. 1842); H. Breßlau, Die Deutschen am Monte Rosa (Sitzungsberichte der Historischen Gesellschaft zu Berlin 1881); Derselbe, Zur Geschichte der deutschen Gemeinden am Monte Rosa und im Ossollathal (»Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde« zu Berlin, 1881); L. Neumann. Die deutsche Sprachgrenze in den Alpen (Heidelb. 1885). J. ^[Julius] Studer, Walliser und Walser, eine deutsche Sprachverschiebung in den Alpen (Zürich 1886); Kaibler, Gegenwärtiger Zustand der deutschen Gemeinden am Südfuß des Monte Rosa (»Globus«, Bd. 59, 1891); L. Neumann, Die deutschen Gemein- ^[folgende Seite]