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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Fachschulen, gewerbliche (Entwickelung in Preußen 1883-90)

Mit rühmlicher Offenheit erkennt die Denkschrift des preußischen Handelsministeriums trotz aller unleugbaren Fortschritte an, daß die allmähliche Entwickelung des gewerblichen Fachschulwesens in Preußen sehr langsam vor sich gegangen ist, und daß das Erreichte nicht im Verhältnis zur Ausdehnung und Bedeutung des Gewerbfleißes selbst und ebensowenig zu den Schwierigkeiten steht, die manchen Gewerbe zweigen aus dem Wettbewerbe des Auslandes und den veränderten Arbeitsbedingungen der Gegenwart erwachsen. »Die Steigerung der Arbeitslöhne, die allgemeine Erhöhung der Herstellungskosten durch die sozialpolitische Gesetzgebung der letzten Jahre, die mit der Änderung der Zollgesetzgebung des Inlandes und des Auslandes für einzelne Industriezweige verbundene Erschwerung der Fabrikation oder des Absatzes nötigen die Gewerbtreibenden, auf Verbesserungen in der Fabrikation bedacht zu sein. Jeder, der Großindustrielle wie der Arbeiter, muß suchen, durch Erhöhung des eignen Könnens leistungsfähiger zu werden, Verluste an Zeit und Geld zu vermeiden, um unter Umständen die kostspielige Hilfe andrer entbehren zu können. Auf der andern Seite bietet die allgemeine Zunahme des Wohlstandes manchem die früher fehlende Gelegenheit, größeres Arbeitsgeschick, größere Kunstfertigkeit und geläuterten Geschmack zu verwerten. Neue Gewerbszweige entstehen, wie die Elektrotechnik, denen es an geschultem Personal fehlt; in andern lichtet sich der in die Fabriken als Werkmeister übernommene Stamm ehemaliger Handwerksmeister oder reicht nicht aus für das wachsende Bedürfnis; dort fehlt es an Zeichnern und Hilfstonstrukteuren, überall an tüchtigen Baugewerksmeistern, um das Bedürfnis nach soliderer, geschmackvollerer und zweckmäßigerer Herstellung der öffentlichen Bauten, der Wohn- und Fabrikgebäude zu befriedigen.«

Aber so anerkannt das Bedürfnis besserer Vorbildung der gewerblichen Kräfte, so schwierig ist anderseits die rasche und stets richtige Befriedigung. Zwar zeigen einzelne Beispiele, wie die Korbflechtschulen, die Möglichkeit, daß durch Anlegung von F. bessere Verwertung inländischer Rohmaterialien oder Gewinnung besserer Materialien, mithin nützlichere Verwertung von Grund und Boden wie von ländlichen Arbeitskräften angeregt werden kann. Allein im allgemeinen müssen die Behörden sich darauf beschränken, die Bedürfnisse vorhandener Gewerbszweige sorgsam zu beobachten und ihnen durch Gründung von Fachschulen abzuhelfen. Diese Bedürfnisse befinden sich aber in einem beständigen, manchmal raschen und überraschenden Wechsel. »An einigen Orten wird ein wichtiger und blühender Gewerbszweig durch die Fortschritte des Maschinenwesens bedroht. So treten in der Weberei die mechanischen Stühle an die Stelle der Handstühle, und in der Kleineisen- und Stahlindustrie wird Handarbeit durch das Gießen und die Schläge der Maschine ersetzt. Die Mode wendet sich von einem Fabrikat ab, sie zieht die Wolle der Seide vor, sie will von Samt nichts wissen, sie verwirft die glatten Tuche und will nur gemusterte Zeuge. In solchen Fällen kann von der Verbesserung des bisherigen Betriebes oder vom Übergange zu einer andern Industrie die Erhaltung einer bedeutenden Produktion oder die wirtschaftliche Existenz vieler Tausende abhängen und hierauf die rasche Einrichtung eines guten Unterrichts von wesentlichem Einflüsse sein.« Aus dieser Betrachtung ergibt sich die Unmöglichkeit, mit Sicherheit auf Jahre hinaus Pläne für den Ausbau des gewerblichen

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Fachschulwesens zu bilden. Nur einige Arten von F. dürfen in dieser Hinsicht ausgenommen werden, da die Gewerbe, für die sie arbeiten, größere Stetigkeit sowohl in ihrer Verbreitung als in ihrer innern Entwickelung zeigen. Dies gilt namentlich von den Baugewerkschulen, von den Kunstgewerbe- und gewerblichen Zeichenschulen, auch Handwerkerschulen genannt, und den Schulen für Maschinenbauer. Ein kurzer Überblick sei diesen Arten von Anstalten denn noch gewidmet.

Die Baugewerkschulen haben in ihrer gegenwärtigen Gestalt vier halbjährige Klassen, die ein Schüler hintereinander oder mit Übergehung der Sommer, wo dann praktisch gearbeitet wird, in vier Wintern durchlaufen kann. Wie sehr sie einem allgemeinen Bedürfnis entgegenkommen, ohne ihm im bisherigen Umfange auch nur entfernt zu genügen, lehrt die Thatsache, daß im Winter 1890/91 die damals vorhandenen neun Anstalten (ohne Posen) in überfüllten Klassen 1825 Schüler zählten und 870 Bewerber wegen Platzmangels hatten abweisen müssen, während z. B. die herzoglich braunschweigische Baugewerkschule zu Holzminden in jenem Winter allein über 1000 meist preußische Schüler zählte. Es ist daher neben Erweiterung mehrerer vorhandener die Begründung neuer Baugewerkschulen in Königsberg i. Pr., Köln a. Nh., Kottbus und in einer noch nicht genannten schlesischen Stadt geplant.

Reges Leben herrscht in einer Anzahl der größern Städte auf dem Gebiete des kunstgewerblichen Schulwesens. Namentlich ist die Handwerkerschule zu Berlin von bedeutendem Einfluß auf die Hebung des gewerblichen Unterrichts nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in vielen andern Städten gewesen. Unter Leitung des von Hamburg herüberberufenen Direktors Jessen hat die Anstalt es in 10 Jahren bis zu dem Umfange von (Winter 1890/91) 127 einzelnen Kursen mit 2204 Schülern gebracht, von denen 161 den Tages-, 2043 den Abend- und Sonntagsunterricht besuchten. In den übrigen derartigen Schulen (abgesehen von den dem Kultusministerium verbliebenen Kunstgewerbeschulen des Berliner Gewerbemuseums und zu Breslau) besuchten gleichzeitig 664 Schüler den Tages-, 4888 den Adend- und Sonntagsunterricht. Berlin kamen am nächsten die Anstalten zu Hannover mit 1412 (140 und 1272) und Magdeburg mit 1093 (38 und 1055) Schülern. Die Gesamtzahl in der Monarchie beträgt demnach 7756 Zöglinge, davon 825 Tages- und 6931 Abend- und Sonntagsschüler. Daß diese Zahl noch erheblicher Steigerung fähig ist, liegt auf der Hand. Wünschenswert erscheint dem Handelsministerium, gewerbliche Zeichen-, Kunstgewerbe- oder Handwerkerschulen mindestens in allen Städten von 33,000 Einw. und darüber einzurichten. Doch rechnet man für die nächsten 6 Jahre auf nicht mehr als 18 neue derartige Anstalten neben gehörigem Ausbau der vorhandenen. Der Aufschwung des kunstgewerblichen Unterrichts ist besonders den gewerblichen Ausstellungen seit Mitte des Jahrhunderts zu danken. Sie vor allem zeigten, »daß durch schöne und sorgfältige Ausstattung der Wohnungen und entsprechende Ausführung der zum allgemeinen Gebrauche bestimmten Gegenstände deren Wert bedeutend gesteigert, ihr Absatz gleichwohl erleichtert und auf diesem Wege die menschliche Arbeit besser verwertet werden könne«. Frankreich war in dieser Hinsicht allen Ländern voraus. Ihm nach begann man zuerst in England, dann in Österreich und im südlichen Deutschland (Württemberg, Baden, Bayern) und in Hamburg, zuletzt