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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Flutsagen (moderne Deutung)

Sagen nicht erzeugen. In China, wo große Überschwemmungen des hochgelegenen Hoanghobettes in unregelmäßigen Zwischenräumen wiederkehren und mitunter Millionen von Menschenleben vernichten, berichtet das Buch Schuking schon von einer Flut unter dem König Yâo (um 2357 v. Chr.), welche die höchsten Berge überflutete und den Himmel bedrohte, aber die Folge ist, daß man kundige Männer beruft, die solches Unheil für die Folge durch Wasserbauten etc. unmöglich machen sollen. Neun Jahre müht man sich vergebens, bis Iu durch Lichtung der Wälder, Regelung und Eindämmung der Ströme dies vollbringt. In neuerer Zeit hat Sueß auf Erdbeben- und Cyklonfluten hingewiesen, die in Küstenländern ähnliche Erscheinungen hervorbringen, wie sie im biblischen Flutbericht geschildert werden, und wie sie gerade auch in den Niederungsländern der asiatischen Südküste, aus denen dieser Bericht stammt, eine häufig wiederkehrende Erscheinung bilden. Er erinnert dabei unter anderm an die von Erbeben begleitete Sturmflut, die in der Nacht vom 11. zum 12. Okt. 1734 aus dem Golf von Bengalen nach N. stürzte und ca. 300,000 Menschen das Leben kostete, eine Katastrophe, die sich in der Nacht vom 31. Okt. zum 1. Nov. 1876 wiederholte und von neuem gegen 200,000 Menschenleben dahinraffte. Bei letzterer Flut sollen 141 geogr. QMeilen 45 Fuß hoch mit Wasser überflutet worden sein, und es ließe sich begreifen, daß die Erinnerung an eine ähnliche, vom Persischen Meerbusen ausgegangene Erdbeben- oder Sturmflut der dichtenden Phantasie der Völker den Anlaß zu jenen: dramatischen Gedicht der Bibliothek von Ninive geboten haben könnte. Auch Andree schließt sich dieser Anschauung an und macht darauf aufmerksam, wie zahlreich gerade an der vulkanischen Westküste Nord- und Südamerikas, wo solche Erdbebenfluten keine Seltenheit sind, die F. auftreten. So führte die Flutwelle des Erdbebens von Callao in Peru (28. Okt. 1746) die Schiffe des Hafens über Mauern und Türme der Stadt ins Land, und von 5000 Bewohnern überlebten nur 200 diese Schreckensstunde.

Aber es gibt eine viel allgemeinere Entstehungsursache der F. in dem über die ganze Welt verbreiteten Vorkommen versteinerter Muscheln, Schnecken, Fische und andrer Seetiere in den Erdschichten hoher Berge. Schon Herodot, Eratosthenes und Xanthus sprechen von binnenländischen Seemuscheln als Zeugen, daß da einst das Meer stand; Tertullian weist auf die Versteinerungen der Gebirge als Zeugen der großen Flut, und Turner erzählt von den Bewohnern der Samoainseln, daß sie gerade so wie der christliche Kirchenvater die versteinerten Fischreste ihrer Berge als Zeugen der großen Flut anriefen. Und dieselbe Argumentation fand schon der alte Cranz bei den Grönländern, Franz Boas in neuerer Zeit bei den Zentraleskimos, und die im übrigen sehr eigentümlichen, von Ellis berichteten F. der Gesellschaftsinsulaner beriefen sich auf die Farero, die versteinerten Korallen und Muscheln auf den hohen Bergen, welche dorthin nur bei der großen Flut gelangt sein können. Wie verführerisch diese Schlußfolge ist, kann man unter anderm bei dem tüchtigen Rumphius sehen, der beim Anblick der riesigen fossilen Gienmuscheln (Tridacna-Arten) der Berge Amboinas, an denen 4-6 Mann zu tragen hatten, in die Worte ausbrach: »Wenn denn nun diese Muscheln nicht auf den Bergen gewachsen sind, noch von Menschen dahin getragen worden, so sind keine nähern Ursachen ausfindig zu machen, als daß sie

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durch eine große Flut müssen dahin gekommen sein«, und das könne nur die Noahsche Flut gethan haben. Ja noch 1832 berief sich der Erlanger Geologieprofessor Karl v. Raumer darauf, daß die in den Kordilleren bei Santa Fé de Bogota in Höhen von über 2000 m und auf dem Himalaja gar von 5000 m gefundenen Mastodonten-, Hirsch- und Pferdeknochen dorthin doch nur durch eine große Flut geschwemmt sein könnten. Er dachte dabei nicht einmal, wie Rumph, an die Möglichkeit nachträglicher Hebung der Schichten; wie sollten da wohl Naturvölker zu andern Schlüssen kommen, als daß eine große Flut alles das bewirkt habe.

An dieses zwingende Argument mußten sich aber andre, ebenso folgerichtige unweigerlich anlehnen, ohne daß Entlehnungen dabei nötig waren. Denn gab es einmal eine so große Flut, daß sie bis zu den höchsten Bergen der Nachbarschaft hinausreichte, so mußten Menschen und Tiere zu Grunde gehen, und wenn das mit Recht geschehen sein sollte, so mußten sie schlecht gewesen sein und die Götter erzürnt haben. Aber da es immer noch Menschen gibt, mußte wenigstens ein Paar von ihnen gerettet worden sein; gab es in der Nähe hohe Berge, so konnte dies durch Ersteigen derselben geschehen sein; fehlten dieselben, so konnten sie sich nur zu Schiffe gerettet haben. In diesem Falle mußten sie wohl durch die Gunst eines Gottes, dem sie Gastfreundschaft geboten, oder eines vorwissenden Tieres, dem sie Schutz erwiesen hatten, gewarnt worden sein und ein sicheres Schiff erbaut haben, und da es auch wieder Landtiere und Pflanzen gab, mußte der Helfer ihnen wohl geraten haben, Tierpaare und Samen in die Arche zu retten. Das sind ganz ungezwungene Gedankenfolgen, ebenso das hier und da vorkommende Festbinden oder Verankern des Schiffes an einen hohen Felsen oder Baum, das wasser- und luftdichte Verschließen, das Landen am Berge und Aussenden von Kundschaftsvögeln. Dann aber bekommt die bis hierher ohne Anstoß verlaufene Phantasiefahrt einen Ruck, denn das Naturkind bleibt unfehlbar bei der Frage haften, wie wird es nun mit der Menschheit, wenn statt eines jungen Ehepaares nur ein altes, oder zwei Männer, oder ein altes Weib allein gerettet wird? Und da die dichtende Phantasie immer den schwierigsten Fall am liebsten nimmt, so entstanden die Sagen von Deukalion und Pyrrha, welche aus Steinen ein neues Geschlecht erwecken, oder von dem allein geretteten alten Weibe der Dajak, welche mit Hilfe des Feuerbohrers ein neues Wesen schafft, oder von der Jungfrau der Knistino- oder Kri-Indianer, die von einem Adler aus der Flut auf einen Felsen getragen wird und von ihm Zwillinge gebiert (nach Catlin), während die Reste der übrigen Menschheit im roten Pfeifenthon Minnesotas zu finden sind. Manchmal pflanzen sich die allein Übriggebliebenen auch durch Schenkel- oder Seitengeburt fort, und nach dem Wiedererscheinen der Pflanzen und Tiere wird in den meisten Fällen nicht gefragt. Man sieht, dahrer leicht, wie sich diese Sagen, welche die Missionare so sehr in Erstaunen setzten, überall bilden konnten und sogar bilden mußten, wo es Bergversteinerungen gibt, und daß dieselben in vielen Fällen nicht viel mehr als Schliff und Kolorit hinzuzufügen brauchten. Vgl. Diestel, Dis Sintflut und die F. des Altertums (2. Aufl., Berl. 1876); Sueß, Die Sintflut (Prag 1883); Carus Sterne, Die allgemeine Weltanschauung in ihrer historischen Entwickelung (Stuttg. 1889); Andree, Die F., ethnographisch betrachtet (Braunschw. 1891).