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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (Lyrik)

von Castans, »Tout Paris« von Georges Duval, »Les Cambrioleurs« von Moreau, die alle auf vorstädtischen Bühnen einem ebenso sensationssüchtigen als naiven Publikum geboten werden konnten. In »La Mer« gab Jean Jullien, der vom Théâtre libre zum Odéon-Theater vorrückte, ein Seitenstück zu seinem realistisch-bäuerlichen Drama »Le Maître«, nur daß hier, wie der Titel erraten läßt, Seeleute und Küstenbewohner handelnd auftreten. »Hélène« von Paul Delair (mit musikalischen Einlagen von André Messager) ist ein weiblicher Hamlet auf dem Dorfe, eine Tochter, welche die Schuld ihrer Mutter entdeckt und mit dem Stiefvater sich selbst vergiftet; »Mademoiselle Quinquina« von Fr. Oswald eine düstere Verführungsgeschichte ohne dramatischen Knoten. Mit »Un Mâle« von Camille Lemmonier, einem Belgier, der in und für Paris schreibt, »La Meule« von Lecomte, »Leurs filles« von Pierre Wolff (einem Neffen Albert Wolffs), »Jean Trémontiers« von Henry de Brisay betritt man den Boden des Théâtre libre, wo alle Brutalität ein Heim findet, aber auch anerkennenswerte Versuche mit litterarischen Erzeugnissen gemacht werden, von denen keine Kassenerfolge zu erwarten sind: mit Ibsens »Wildente« nach den »Gespenstern«, mit den »Aveugles« und der »Intruse« von Maeterlinck, der »Fille aux mains coupées« von Pierre Quillard, einem Symbolisten, »Chérubin« von Charles Morice, einem andern Symbolisten, dem »Père Goriot«, einer mißglückten Bearbeitung des gleichnamigen Balzacschen Romans durch Tabarant. Gleich diesem war auch »L'Herbager«, ein dreiaktiges Schauspiel in Versen von Paul Harel, von der befreundeten Presse als ein epochemachendes Werk angekündigt worden und entsprach dann bei der Aufführung durch die Schauspieler des Odéon nicht im geringsten den hochgespannten Erwartungen, obwohl die Sprache schön und der Versbau musterhaft ist. Eine Bühnenarbeit in gebundener Rede gehört heute zu den Seltenheiten, und noch seltener ist es, daß sie Anerkennung findet. Diese wurde im Théâtre français dem dreiaktigen Mysterium »Grisélidis«, dank der vollendeten Verseschmiedekunst des Dichters Armand Silvestre, dem Eugène Morand für das Technische wacker an die Hand gegangen war, sowie auch dem romantischen Drama »Par le glaive« von Jean Richepin zu teil. »Chant d'amour«, Lustspiel in einem Akt von Gandrey mit Einlagen von Francis Thomé, versetzt das »Hohe Lied« auf die Bühne: es stiftet einen Ehebund zwischen einem jungen Mann, der in schopenhauerscher Stimmung seinen Onkel besucht, um ihm seine Absicht, sich in einer Kartause zu begraben, mitzuteilen, und dessen unverhofft auftauchender lieblichen Kousine. »Les uns et les autres« heißt ein andrer Einakter in Versen von Paul Verlaine, welcher bei der Benefizvorstellung für den unglücklichen Verfasser im Théâtre d'art gespielt wurde, nicht ohne Mühe, denn die Sprache Verlaines ist dunkel und schwer vorzutragen. Von Emile Bergerat, einem ebenso talentvollen wie unpraktischen Dichter, der mit den Theaterdirektoren in beständiger Fehde liegt, weil sie seine Werke nicht zu würdigen verstehen, ist ein Band »Théâtre en vers« erschienen: »Enguerrande«, dramatisches Gedicht, »La nuit bergamasque«, Tragikomödie in drei Akten, »Le capitaine Fracasse«, heroische Komödie (nach dem gleichnamigen Roman von Théophile Gautier, dem Schwiegervater Bergerats).

Die bürgerliche Sittenkomödie, wie Emile Augier, Goudinet, Dumas Sohn u. a. sie pflegten, scheint eingehen zu wollen oder dem an die Posse streifenden Lustspiel den Platz räumen zu müssen. »Le mariage blanc« von Jules Lemaître, »Musotte« von Guy de Maupassant und Jacques Normand, die hervorragendsten Erzeugnisse der aussterbenden Gattung, sind geistreiche, gefühlvolle Spielereien, nichts mehr; »Passionnément« von Albert Delpit hinkt hinter Dumas' »Étrangère«, der Einakter »L'abbe ^[richtig: l'abbé] Vincent« von Grenet-Dancourt hinter dem »Abbé Constantin« von Ludovic Halévy her, »Liliane« von Champsaur und L. Lacour, »L'Union libre« von Champvert erheben sich nicht über sehr gewöhnliches Mittelgut; »L'ami de la maison« von Maurice Boucheron (dem glücklichen Verfasser von »Miss Helyett«) und Raymond sowie »L'article 291« von Paul Ferrier, die beide im Théâtre français gespielt wurden, sind mutwillige Vaudevilles, deren eins, »L'article 291«, Anklang fand, das andre aber nicht. Dieser Boden, wo tolle Laune und leichter Witz freien Lauf haben, ist unstreitig der fruchtbarste; hier grünen und blühen »D'une heure à trois« von Abraham Dreyfous, der Einakter, der in Wien verboten wurde, weil er den ärztlichen Beruf lächerlich machen soll, »L'infidèle« von G. de Porto-Riche, »Le bonheur à quatre« und »La Diva en tournée« von Léon Gandillot, »La plantation Thomassin« von Maurice Ordonneau, »La femme« und »Les aventures de monsieur Matin« von Albin Valabrègue, »Les héritiers Guichard« von Gaston Marot, »Le demoiselle du téléphone« von Maurice Desvallières und Antony Mars, »La famille Pont-Biquet« von A. Bisson, »Les joies de la paternité« von A. Bisson und Vast-Ricouard, »Antonio père et fils« von Albert Barré, »La famille Vénus« von Bénédite und Clairville, »Une maîtresse de langues« von Crisafulli und Carcenac, »L'oncle Célestin« von Maurice Ordonneau und Kéroul (Musik von Audran), »Le monde où l'on flirte« von E. Blum und Raoul Toché.

Lyrik.

Weit mehr noch als im Roman macht sich in der Lyrik der »Symbolismus« und »Dekadismus« (Jean Moréas sagt »Romanismus«) geltend. Die Pfleger dieser Kunstarten, welche lange nicht über einen engen Kreis Gleichgesinnter herauskamen und zu dem Publikum bloß in ihren Zeitschriften sprachen, deren Titel nur Eingeweihte kennen: »L'Étoile«, »Le Mercure de France«, »La Revue indépendante, »Les hommes d'aujourd'hui«, »L'Ermitage«, »La Conque«, »La Wallonie«, »Le jeune Belgique«, wurden durch verschiedene Umstände allmählich ans Licht gezogen und außerhalb ihres eignen dunkeln Musenhains erörtert. Unter ihnen befinden sich nicht wenige Ausländer, neben Belgiern und Schweizern, deren Muttersprache das Französische ist, auch ein Grieche, Moréas, ein Angelsachse, Vielé-Griffin. ein Nordamerikaner, Stuart Merill, eine Polin, Marie Krysinska, und eine Schar Flamänder. Die einen sind Jünger Baudelaires und Verlaines, andre Stephane Mallarmés und Leconte de Lisles, die meisten aber wollen keine geistigen Ahnen anerkennen, sondern in vollster Freiheit nur ihr Ich widerspiegeln und dabei mit allen bisherigen Regeln der Sprache und Metrik willkürlich umspringen. Unter allen der unverständlichste ist René Ghil, der als Dichtersprache die évoluto-instrumentiste erfunden hat, wonach ein enger Zusammenhang zwischen gewissen Buchstaben und den Klängen gewisser Instrumente