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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (Kritik, Memoiren, Briefwechsel)

herrscht, ähnlich wie zwischen den Farben und Worten, nach welcher Theorie der verstorbene Barbey d'Aurévilly die Worte, auf die er besonderes Gewicht legte, mit verschiedenen bunten Tinten schrieb. Einige der neuen Dichter wollen vor allem als Magier gelten: Stanislas de Guaita, Verfasser einer »Rosa mystica« und zahlreicher »Essais de science maudite«, Albert Ihouney, der in seinem »Livre du jugement« den Grundstein einer neuen Religion zu legen beabsichtigte, Jules Bois (»Les noces de Sathan«, »Il ne faut pas mourir«), Saint-Pol Roux le Magnifique, Papus, Emile Michelet u.a., von denen man nur wenige dichterische Erzeugnisse kennt, aber weiß, daß sie in ihrem Kreise Bewunderung erregen. Gleich ihnen vermengen die Symbolisten größtenteils die Religion mit den profansten Dingen, christliche Ideen mit heidnischen, und die Scheidelinie, wo der Symbolist aufhört und der Magier anfängt, ist oft schwer zu ziehen: Henri de Régnier, Edouard Dubus, Louis Le Cardonnel halten sie nicht immer inne, während der Grieche Jean Moréas, Maurice du Plessys, Raymond de la Tailhède, Charles Maurras, die enthusiastischen Gründer der »École roman française« mehr dem Archaismus als dem Okkultismus huldigen. Sie suchen für ihre Gedanken und Empfindungen den passendsten Ausdruck in der Sprache des 11., 12,, 13., auch des 16. und 17. Jahrh., und Moréas geht seinen Freunden, so z.B. in seinem »Pélerin passionné«, in der Mißachtung des Versmaßes mit einem Beispiel voran, das ihm viel Tadel zuzieht. Es kommt bei den Symbolisten vor, daß sie sich des deutschen Wortes »Lied« bedienen, um ihre Dichtungen zu kennzeichnen, und in der That bringen diese oft ihre Stimmungen und Empfindungen so unmittelbar und schlicht zum Ausdruck, wie das echte Lied es erheischt und man es in der französischen Poesie nicht gewöhnt ist. Der Genfer Duchosal in seinem »Livre de Thulé«, die Flamänder Georges Rodenbach (»Le règne du silence«), Maeterlinck (»Serres chaudes«) und Verhaeren (»Les Soirs«, »Les Moines«), die ihre fremdländische Eigenart behalten, aber in Paris ihren geistigen Sammelpunkt haben, führen auf diesem Gebiete den Reigen, das auch Edouard Harancourt, der Verfasser des Mysteriums »La Passion«, in »L'Ame nue« und »Seul«, der Bretone Charles Le Goffic in zerstreuten Gedichten, der Provençale Fernand Mazade (»De sable et d'or«) und Maurice Rollinat, dessen Beschützerin noch George Sand war, in »La Nature« mit natürlichem Geschick beschreiten. Von Paul Verlaine, dem Altmeister dieser Schule, ist ein »Choix de poésies« erschienen, der ihm bei einem größern Publikum Zutritt verschafft, vielleicht auch, dank den Freunden, eine Anerkennung, um die der Sonderling selbst sich weder bewarb noch kümmerte. Die Abstrusen unter den Symbolisten behandeln ihn heute schon fast geringschätzig als einen »parnassien«, obwohl das Hauptaugenmerk dieser stark zusammengeschmolzenen Gruppe, das Streben nach blendender, bestechender Form, dem in sich gekehrten, weltabgewandten Dichter ganz fremd war. Sprachlich näher steht ihr Vielé-Griffin, welcher, wie aus seinen »Cygnes« heraustönt, geistig ein Sohn des Nordens, ein Urenkel der Barden geblieben ist. Stuart-Merill hingegen verehrt in René Ghill sein Vorbild, hascht gleich ihm nach den sonderbarsten Allitterationseffekten und macht auf den Laien den Eindruck des Gedankenleeren. Das aber ist »abscons« (verborgen, geheim), wie ein Lieblingsausdruck, wenn nicht das Losungswort der Dekadenten lautet.

Kritik. Memoiren. Briefwechsel.

An das bisher Erwähnte schließt sich unmittelbar ein Band an: »Enquête sur l'évolution littéraire« von Jules Huret, der später einmal als Quellenwerk, wenn auch keineswegs als unbedingt zuverlässiges, wird dienen können. Der Verfasser, Mitarbeiter des »Écho de Paris«, hatte sich die Aufgabe gestellt, die bekanntesten Schriftsteller über die heutige litterarische Bewegung zu interviewen oder, wenn dies nicht möglich war, schriftlich ihre Ansichten über den in die Brüche gehenden Naturalismus, den Symbolismus etc. zu erlangen. Nicht alle entsprachen seinem Wunsche, aber was vorliegt von und über die Tagesgrößen oder die, welche es gern wären, ist lehrreich, obwohl nicht immer erbaulich; denn neben bestimmten, wenig bekannten Thatsachen erfährt man Bosheiten über Bosheiten, welche Psychologen, Symbolisten, Magier, Naturalisten, Neo-Realisten, Parnassiens (so teilt Huret die Kämpfenden ein) gegeneinander loslassen. In einem ganz andern Ton und Geist sind die »Idées morales du temps présent« von Edouard Rod geschrieben, Studien über Ernest Renan, Zola, Bourget, Jules Lemaître, Edmond Schérer, Dumas Sohn, Brunetière, Vicomte de Vogüé, Tolstoi, Schopenhauer, mit allgemeinen Schlußbetrachtungen über die sittliche Auffassung der Tagesfragen. Anatole France fährt fort, seine im »Temps« erscheinenden geistreich empfindsamen Plaudereien über litterarische Dinge der Gegenwart und Vergangenheit in Buchform zu veröffentlichen (»Vie littéraire«, Band 3), wie Paul Ginisty seine »Année littéraire« (6. Jahrg.), Noël und Stoullig die »Annales de théâtre et de la musique« (16. Jahrg.), André Daniel seine »Année politique« (17. Jahrg.) und eine Gruppe junger Publizisten unter der Leitung des Professors Ernest Lavisse die »Vie politique à l'étranger« (2. Jahrg., mit einer Einleitung des Akademikers Melchior de Vogüé). »Portraits et souvenirs« nennt Armand Silvestre eine Sammlung stilistisch glänzender, stimmungsvoller Skizzen, die er befreundeten Künstlern und Schriftstellern widmet. Von den vier »Lebenden«, den Malern Puvis de Chavannes und Henner, dem Radierer Marcellin Desboutin und der Tragödin Agar, gehört diese nun ebenfalls zu den »Toten«, unter denen man George Sand und ihrem Sohne Maurice, dem Dichter Théodore de Banville, den Malern Aimé Mittel, Eugène Fromentin, Feyen Perrin, dem Feuerwerker Ruggieri, auch Tin Tun Ling, dem »Chinesen Théophile Gautier« begegnet. Viel weiter zurück reichen die zwei neuen Bände des ewig jungen Arsène Houssaye: »Confessions« (Anecdotes historiques et confessions des autres), auf welche noch andre folgen sollen. Das bedeutendste Memoirenwerk des Jahres war weitaus der endlich zur Veröffentlichung gelangte Nachlaß des Fürsten Talleyrand, über dessen vollständige Echtheit oder Ganzheit sich ein Streit entspann, welcher sich nur legte, weil für die Behauptung der Gräfin Mirabeau-Martel (Gyp), einer Nichte des Herrn de Bacourt, Sekretärs und Vertrauten des Fürsten, es wären auf Befehl Napoleons III. Abschwächungen oder Streichungen vorgenommen worden, keine unumstößlichen Beweise beigebracht werden konnten. Der Glaube aber, daß die in den drei ersten Bänden (es werden ihrer fünf sein) vorliegenden Denkwürdigkeiten nicht ganz die sind, deren Hüter Herr v. Bacourt während einer Reihe von Jahren bis zu seinem Tode war, dauert bei vielen fort. Höchst interessante neue Einzelheiten über die napoleonischen Feldzüge