Autorenkollektiv,
Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien,
Vierte Auflage, 1885-1892
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Gefängnisvereine (internationale Verbindung; Aufgaben)
während lokale Vereine für sich allein derartige Anstalten entweder gar nicht herstellen können, weil diese Aufgabe ihre Kräfte übersteigt, oder doch nicht mit demselben Erfolg wie bei Zentralisierung betreiben können. Durch die Zentralisierung des Vereinslebens innerhalb des ganzen Deutschen Reiches würden die für einzelne Länder oder Provinzen bestehenden Zentralorgane nicht überflüssig werden, sondern letztere würden als wichtige Mitglieder sehr nützlich, wo nicht unentbehrlich sein. In den letzten Jahren insbesondere sind die Aussichten auf Erfolg dieser Einheitsbestrebung gewachsen. Die erste Versammlung von Vertretern deutscher Schutzvereine für entlassene Gefangene und von Vereinen mit verwandten Bestrebungen, welche gleichzeitig mit der Versammlung des Vereins deutscher Strafanstaltsbeamten (Freiburg 1889) tagte, hat das Bedürfnis der Schaffung eines Verbandes deutscher Schutzvereine anerkannt und beschlossen, bei der nächsten Versammlung des zuletzt genannten Vereins wieder zusammenzutreten; für die Zwischenzeit wurde ein Ausschuß von drei Mitgliedern gewählt und mit der Wahrnehmung der gemeinsamen Angelegenheiten der deutschen Schutzvereine beauftragt. Ferner sprach diese Versammlung ihre Überzeugung dahin aus: das Bestehen einer Zentralstelle für die schutzvereinliche Thätigkeit eines Landes, einer Provinz, eines Regierungsbezirks ist für deren richtige Organisation und deren dauernden Bestand von der größten Bedeutung. Ihr praktischer Wert besteht in der möglichst weiten Ausdehnung der Vereinsaufgaben und der Bereithaltung aller zu ihrer Lösung erforderlichen Mittel. Die der Zentralleitung zufallenden Aufgaben sind im Interesse der Erhaltung einer möglichst großen Selbständigkeit der einzelnen Vereine genau zu bestimmen.
Noch ehe die nationale Zentralisierung innerhalb des Deutschen Reiches erzielt werden konnte, ist es gelungen, eine internationale Verbindung von Schutzvereinen zunächst zwischen der Schweiz und Deutschland herzustellen. Im Oktober 1886 kam ein Übereinkommen zwischen der Zentralleitung der badischen Schutzvereine und dem Schutzverein in Basel behufs gegenseitiger Überweisung derjenigen entlassenen Strafgefangenen zu stände, welche, dem Gebiete des einen Schutzvereins angehörend, im Gebiete des andern eine Freiheitsstrafe verbüßt hatten. Diesem Übereinkommen sind die meisten andern Schweizer und deutschen Vereine beigetreten. Der internationale Gefängniskongreß in Petersburg (1890) hat den Wunsch ausgesprochen, es möchten solche Beziehungen zwischen den Schutzvereinen aller Länder geschaffen werden. Diese internationalen Übereinkommen sollten nach dem Beschluß des Kongresses folgende Grundsätze aufstellen: Zusicherung des regelmäßigen und gegenseitigen Austausches der gemachten Erfahrungen; Ausdehnung der Fürsorge auf fremde Personen; Versprechen der Zurückbeförderung entlassener Gefangener in die Heimat oder anderwärtige Unterbringung in Arbeit. Außerdem sollen die erforderlichen Maßregeln für die Behandlung des sogen. Pekulium, d. h. der im Gefängnis ersparten Arbeitsbelohnung, hinsichtlich der Kleidung, der Legitimationspapiere und des ungehinderten Durchlasses der Schützlinge vereinbart werden. Zur Beförderung der Herstellung eines internationalen Verbandes unter den Schutzvereinen erklärte der Kongreß die vorgängige Schaffung von Zentralorganen für die Vereine der einzelnen Länder als wünschenswert. Sowohl die Gründung eines allgemeinen internationalen Verbandes als die Zentralisierung hat der internationale Kongreß für Gefangenen-Fürsorge (Antwerpen 1890) gleichfalls empfohlen.
Die Aufgaben der Schutzvereine lassen sich teilen in die Fürsorge während der Einsperrung und in die Fürsorge nach der Entlassung. Jene erstere Aufgabe bildete den Ausgangspunkt für die Thätigkeit der ältesten derartigen Vereine, welche sich die Verbesserung der Lage der Gefangenen überhaupt zum Zweck gesetzt hatten. Neben dem Streben nach Reform der Gefängniseinrichtungen suchten diese Vereine besonders durch regelmäßige Besuche bei den Gefangenen deren Lage zu erleichtern und auf deren moralische Besserung hinzuwirken. In neuerer Zeit ist man solchen Besuchen, weil sie die Gefahr einer Einmischung in die Verwaltung mit sich bringen, nicht mehr günstig. Auch der internationale Gefängniskongreß zu Rom (1885) hat sich für die Zulassung dieser Besuche nur mit dem Vorbehalt ausgesprochen, daß durch dieselben weder die Hausordnung gestört, noch der Einfluß der Gefängnisbeamten beeinträchtigt werden dürfe; ähnlich sprach sich der Antwerpener Kongreß (1890) aus. Damit ist für die Zulassung von derartigen Privatbesuchen auf das Ermessen der Gefängnisverwaltung verwiesen; ein wirkliches Bedürfnis für dieselben ist übrigens kaum mehr vorhanden, da bei allen Gefängnissen, in welchen längere Freiheitsstrafen vollzogen werden, Geistliche, Lehrer und ein Arzt angestellt sind, mit welchen der Gefangene in Verkehr tritt. Dagegen wenden einzelne Vereine ihre Fürsorge während der Strafzeit den hilfsbedürftigen Familien der Gefangenen zu, wodurch mittelbar das Los des Gefangenen selbst erleichtert, die Pflege der Beziehungen zwischen ihm und seiner Familie begünstigt, endlich auch für die Zeit nach der Entlassung eine Verbesserung seiner Lage geschaffen wird. Der Gefängniskongreß zu Petersburg sowie der Kongreß zu Antwerpen haben sich ebenfalls zu gunsten dieser Maßregel erklärt. Nach der Entlassung bildet die Hauptaufgabe die Beschaffung einer dauernden Arbeit, bei jugendlichen Personen die Unterbringung in einer Lehrstelle. Mittel zum Zweck sind je nach den Verhältnissen die Beförderung in die Heimat oder die Vermittelung der Auswanderung, ferner die Verwaltung des während der Strafzeit ersparten Arbeitsguthabens, nötigen Falls die Unterstützung mit kleinen Darlehen; mit der Begünstigung der Auswanderung hat man besonders in England gute Erfolge erzielt. Zweckmäßig werden schon während des Aufenthalts eines Schützlings in der Strafanstalt von den Vereinsorganen die erforderlichen Vorbereitungen getroffen, um den Hilfsbedürftigen unmittelbar nach der Entlassung in ein Arbeitsverhältnis zu bringen etc., weshalb eine immerwährende Verbindung zwischen der Strafanstaltsverwaltung und den Vereinsorganen wünschenswert ist. Soweit aber ein Übergangsstadium nicht zu vermeiden ist, dienen zur einstweiligen Unterbringung Asyle. Diese sind insbesondere für die weiblichen Entlassenen kaum entbehrlich, weil dieselben vor der Verbüßung einer längern Freiheitsstrafe meistens durch das Prostituiertenleben hindurchgegangen und deshalb viel schwerer zu versorgen sind. In neuester Zeit wurden zunächst zur Bekämpfung des Vagabundentums, mittelbar auch zur Erleichterung des Übergangs von der Strafanstalt in die freie Arbeit, die Arbeiterkolonien geschaffen, deren erste, Wilhelmsdorf bei Bielefeld, Pastor v. Bodelschwingh 1882 begründet hat. 1889 bestanden im Deutschen