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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Gefängnisvereine (in einzelnen Ländern; Zentralisierung)

schaft des letzten Jahrhunderts, die aber selbst heute noch, weit davon entfernt, Gemeingut zu sein, nicht in dem erforderlichen Maße gewürdigt wird. Die Anfänge der Fürsorge für entlassene Sträflinge hängen zusammen mit den Anfängen der Bestrebungen für die Verbesserung des Gefängniswesens. Ein wohlhabender Bürger von Philadelphia, Richard Whister, welcher in der Nähe des Gefängnisses wohnte und täglich beobachtete, in welchem verwahrlosten Zustande die Gefangenen entlassen wurden, veranlaßte die 7. Febr. 1776 erfolgte Gründung eines Vereins zur Unterstützung armer Gefangener (Philadelphia society for assisting distressed prisoners). Diese und andre Gefängnisgesellschaften stellten sich zwar ursprünglich eine viel weitere Aufgabe als die Fürsorge für entlassene Gefangene. Mit dem Fortschreiten der Reform des Gefängniswesens ergab sich aber von selbst eine allmähliche Verlegung des Schwergewichts der privaten Thätigkeit auf Vorbeugungsmaßregeln, insbesondere auf die Fürsorge für Entlassene. Überdies entstanden neben den Gefängnisgesellschaften auch besondere Vereine zur Unterstützung entlassener Sträflinge, welche im Anfang wenigstens auch staatliche Beihilfe genossen. In England hatten schon Ende des vorigen, bez. der ersten Hälfte des 19. Jahrh. John Howard und Elisabeth Fry das Verständnis für diese Frage zu fördern gesucht, der erste Verein entstand jedoch erst 1857; die Bildung weiterer Vereine wurde begünstigt durch ein Gesetz von 1862, welches denjenigen Vereinen staatliche Unterstützung versprach, die sich unter die Aufsicht des Staates stellen würden; 1888 zählte man in England nach Tallack ungefähr 70 Vereine zur Unterstützung entlassener Gefangener. Während sich die Vereinsbildung in den romanischen Ländern, Italien, Frankreich und Spanien, erst im Laufe der letzten 20 Jahre und verhältnismäßig nur wenig entwickelt, in Belgien aber die Vereinsthätigkeit gänzlich aufgehört hat, weisen die germanischen Länder eine sehr starke Vereinsbildung und lebhafte Vereinsthätigkeit auf. Der älteste derartige Verein des europäischen Festlandes wurde 24. April 1797 auf der Insel Fünen (Dänemark) gegründet; jetzt besitzt Dänemark fünf Vereine zur Unterstützung entlassener Sträflinge. Für Schweden gab ein 1840 erschienenes Buch des nachmaligen Königs Oskar I. die Anregung zur Bildung von Schutzvereinen in jeder Provinz; neben diesen besteht noch eine von dem Arbeiterverein in Stockholm ins Leben gerufene Vereinigung zur Vermittelung von Arbeit für entlassene Gefangene. Norwegen begann erst 1878 mit der Gründung von Vereinen, deren es jetzt acht hat. Die Niederländische Gesellschaft, bestehend aus einer Reihe von Lokalvereinen, die sich besonders in Städten mit Strafanstalten befinden, wurde 1823 gegründet.

In der Schweiz hat die Mehrzahl der Kantone Schutzvereine oder wenigstens staatliche Fürsorgeeinrichtungen auf gesetzlicher Grundlage. Die ältesten Vereine sind in Basel (Stadt, 1820), Genf (1825), Waadt (1837), St. Gallen (1838). Weniger stark entwickelt ist das Schutzvereinswesen in Österreich-Ungarn. Dagegen hat der Gedanke im Deutschen Reich die weiteste Verbreitung gefunden, und es ist nicht nur ein weit ausgebreitetes, sondern auch teilweise sehr enges Netz von Vereinen geschaffen worden; nur Lübeck, Oldenburg und die beiden Reuß entbehren der Schutzvereine. Der älteste Verein, die Rheinisch-westfälische Gefängnisgesellschaft, 1826 gegründet durch den Pastor Fliedner, hatte sich, ebenso wie die amerikanischen und englischen Vereine, einen weit über die Sorge für Entlassene hinausgehenden Zweck gesetzt, indem er neben dieser Fürsorge die Verbesserung des Gefängniswesens überhaupt, Gründung von Asylen, Anstellung von Reisepredigern etc. anstrebte. Ein Jahr später erfolgte die Gründung des Vereins zur Besserung der Strafgefangenen in Berlin, welcher sich ebenfalls zugleich die Verbesserung des Gefängniswesens zum Ziel gesetzt hat, anfangs auch mit Erfolg Tochtervereine in der Provinz ins Leben rief (z. B. in Breslau 1829, Potsdam 1829); eine große Anzahl andrer Vereine in Preußen ist verhältnismäßig spät entstanden. In neuerer Zeit wurde die Zentralisierung durch Bildung von Provinzialvereinen gefördert; so für Hannover, Ostpreußen, Posen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Westpreußen. Der 1836 im Königreich Sachsen gegründete Verein zerfällt in 37 Bezirksvereine, welche unter der Oberleitung eines Zentralausschusses in Dresden stehen. In Bayern bestehen Kreisvereine für Mittelfranken seit 1845, für Oberfranken seit 1846, für Oberbayern seit 1861, nachdem der 1844 zu München gegründete Verein sich 1855 wieder aufgelöst hatte und 1860 ein neuer Lokalverein für München gebildet worden war, für Schwaben seit 1863, endlich für die Rheinpfalz ein Verein für sittliche Besserung verwahrloster Kinder und jugendlicher Strafentlassener. In Württemberg entwickelte sich aus dem 1831 zu Stuttgart gegründeten Schutzverein ein das ganze Land überspannendes Netz von 64 Hilfsvereinen. In Baden war der erste Versuch (1830) ebenso wie in Bayern mißglückt; ein zweiter Versuch (1853) führte zwar zur Gründung von Bezirksvereinen, diese verfielen jedoch Anfang des 6. Jahrzehnts meistens in Unthätigkeit. Seit 1882 wurden auf neuer Grundlage in allen (59) Amtsgerichtsbezirken Bezirksvereine gegründet und diese zu einem Landesverband unter einer Zentralleitung vereinigt. Im Elsaß hat sich der seit 1822 bestehende Verein zur Fürsorge für entlassene Jugendliche mit dem 1884 gegründeten allgemeinen Schutzverein für entlassene Gefangene und die Familien Gefangener vereinigt (1886). Daneben existiert in Mülhausen seit 1885 ein evangelischer Schutzverein. Für das Gebiet von Hessen-Darmstadt wurde 1841 ein Schutzverein gegründet, dessen Verwaltung jetzt eine Zentralbehörde und 21 Bezirksvereinskommissionen besorgen. In Oldenburg, wo der 1841 gegründete Verein sich bald wieder auflöste, sowie in Sachsen-Weimar, wo seit 1880 ein Landesverein unter kirchlicher Oberleitung besteht, ist die Fürsorgethätigkeit eine Aufgabe der Geistlichen.

Eine Zentralisierung aller Schutzvereine des Deutschen Reiches, wie sie für England, Schweden, Holland und Dänemark, aber auch innerhalb Baden, Hessen-Darmstadt, Sachsen und Württemberg vorhanden ist, wird seit längerer Zeit angestrebt. Die Zentralisierung erleichtert die Bildung von Vereinen für kleinere Bezirke, weil die durch den Anschluß an das Ganze eröffnete Aussicht auf Unterstützung und Erfolg ermutigend wirkt. Die Zentralisierung befördert die Vereinigung zu gemeinsamer Arbeit und ermöglicht die Aufstellung sowie die Befolgung einheitlicher Grundsätze für die Schutzthätigkeit; das Zentralorgan kann bei Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung solcher Grundsätze vermittelnd und entscheidend eingreifen. Die Zentralisierung ist endlich der einzige Weg, um die Errichtung gemeinschaftlich zu benutzender Anstalten, wie Arbeitsnachweisbüreaus, Beschäftigungshäuser, Verpflegungshäuser mit möglichster Vollkommenheit zu bewerkstelligen.