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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Gesundheitspflege (internationaler Kongreß London 1891)

Der Kongreß zerfiel in zehn Spezialversammlungen, die gleichzeitig tagten, und deren Teilnehmer mithin auf alles übrige verzichten mußten. In der ersten Sektion wurde zuerst das Thema der internationalen Seuchenabwehr behandelt. Die drohende Ausbreitung der großen Wanderepidemien, in erster Linie der Cholera, von Asien aus über den Occident haben den ersten Anstoß zu zielbewußtem Handeln im Sinne unsrer heutigen Gesundheitslehre gegeben. Es lag nahe, daß man zuerst dazu griff, in der Erinnerung an gewisse analoge Ereignisse im Mittelalter durch Absperrungsmaßregeln gegen den Einbruch der Seuche einen Schutz zu errichten, und so deutlich man bald erfahren mußte, daß dadurch dem Weiterschreiten der Seuche kein Einhalt gethan wurde, hat man bis zu den Zeiten der jüngsten, noch frisch in unsrer Erinnerung liegenden Epidemien der 80er Jahre sich an den Gedanken festgeklammert, durch Landquarantänen und Sanitätskordons einzelne Länder und Landesteile vor dem Hereinbrechen der Cholera schützen zu wollen. Man ist dann an der Hand der greifbaren Erfahrungen von theoretischen Erwägungen mehr und mehr zu der Überzeugung von der Notwendigkeit einer internationalen Seuchenprophylaxe gelangt und hat diesen Gedanken durch die Einrichtung des internationalen Sanitätsrates in Alexandrien und die periodische Einberufung internationaler Sanitätskonferenzen praktisch zu verwirklichen gesucht. Die nächste Etappe auf diesem Entwickelungsgang wird dann durch Pettenkofers Lehre von der örtlichen Disposition bezeichnet, die darauf hinführt, unser Bestreben nicht so sehr auf die Verhinderung der Einschleppung der Seuche wie darauf zu richten, der etwa eingeschleppten Seuche die Bedingungen zu ihrer Weiterverbreitung zu entziehen, d. h. solche hygienische Zustände zu schaffen, daß der Einbruch einer Seuche keine Quelle der Gefahr mehr in sich schließt. England mit seinen großartigen hygienischen Einrichtungen, seiner weitgehenden Fürsorge für Reinhaltung des Bodens und Beschaffung guten Trinkwassers ist auf diesem Wege den übrigen Nationen vorangeschritten, die dann eine nach der andern, von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen durchdrungen, dem Beispiel gefolgt sind. Der Hauptredner zu der Frage, Cuningham, vertrat den stets von den Engländern verteidigten Standpunkt: keine Landquarantänen, keine Seequarantänen. Auch dem System der ärztlichen Überwachung des Seeverkehrs schreibt er nur teilweisen Nutzen zu, insofern dadurch eine sofortige sachgemäße Behandlung der das Schiff verlassenden Kranken gewährleistet wird; eine Einschleppung der Seuche verhindert auch dies System nicht. Von wirklich praktischer Bedeutung ist nur die Schaffung guter hygienischer Zustände im Lande selbst, die eine Weiterverbreitung des eingeschleppten Krankheitskeims verhindert. Einen ganz ähnlichen Standpunkt nahm der zweite Redner, Lawson, ein, der, ein Gegner der kontagionistischen Theorie, ebenfalls der Beseitigung örtlicher Schädlichkeiten das Hauptgewicht beimißt. Der abweichende deutsche Standpunkt, der sich auf die Ergebnisse der neuern Bakteriologie stützt, kam, da an der Diskussion sich fast ausschließlich Engländer beteiligten, nicht zum Ausdruck.

In der zweiten Sektion wurde die Frage der Immunität eingehend verhandelt. Roux (Paris), Buchner (München) und Hankin (Cambridge) eröffneten die Diskussion, an der sich viele Forscher beteiligten, deren Namen auf diesem Gebiet seit langem einen guten Klang haben. Buchner gab einen allgemeinen Überblick über das Thema. Über die angeborne, natürliche Immunität wissen wir nichts, die künstliche wird erreicht durch Präventivimpfung mit dem spezifischen, künstlich abgeschwächten Krankheitserreger oder mit sterilisierten Kulturen der spezifischen Krankheitserreger. Hierher gehören die Hühnercholera- und Milzbrandimpfungen Pasteurs, die neuern Versuche bei Diphtherie von Fränkel und Brieger etc. Ferner erzielten Behring und Kitasato Immunität gegen Tetanus durch Vorbehandlung mit Jodtrichlorid und gegen Diphtherie durch Vorbehandlung mit Wasserstoffsuperoxyd; Buchner selbst hat auf die Möglichkeit hingewiesen, durch die eiweißartigen Bestandteile des plasmatischen Inhalts der Bakterienzelle, die von Nencki sogen. Proteine, eine Immunisierung herbeizuführen. Über die Art, in welcher alle diese Stoffe wirken, wissen wir noch sehr wenig. Erfolgt die Immunisierung durch abgeschwächte spezifische Krankheitserreger, so scheint der Vorgang im wesentlichen eine abgeschwächte Kopie des spezifischen Krankheitsprozesses zu sein. Bei gewissen Infektionen scheint eine fieberhafte Reaktion zur erfolgreichen Immunisierung zu gehören. In andern Fällen fehlt das Fieber und namentlich bei der Immunisierung durch sterilisierte Kulturen jede ausgesprochene Reaktion. Die Immunität hat man zu erklären versucht durch eine Verhinderung der Vermehrung eingedrungener Krankheitserreger infolge Entziehung von nährenden Stoffen. Diese Hypothese ist verlassen. Aber auch gegen Metschnikows Phagocytenlehre sind bald gewichtige Einwände erhoben worden, nach welchen die Phagocytose mehr als ein sekundärer Vorgang nach Analogie der übrigen Resorptionsvorgänge erscheint, nachdem bereits andre Wirkungen stattgefunden haben. Eine dritte Theorie geht von dem Vorhandensein schützender Stoffe in den tierischen Gewebssäften aus. Neuere Untersuchungen von Buchner, Fodor, Behring, Nissen u. a. haben ergeben, daß Blut und Serum der verschiedensten Tierarten und auch von Menschen auf verschiedene Bakterienarten tötend einwirken, ebenso auch entzündliche bakterienfreie Exsudate und Transsudate sowie endlich der ausgepreßte Muskelsaft verschiedener Tierarten. Dabei ist aber die Wirkung stets nur eine bedingte, relative; jede Art von Blut und Serum wirkt nur auf eine beschränkte Zahl von Bakterienarten, oft in ganz spezifischer Weise, und zeigt sich außerdem abhängig von quantitativen Verhältnissen. Die bakterienfeindliche Wirkung des Blutes muß durch gelöste Stoffe bedingt sein, welche im Serum, überhaupt in den Gewebssäften, unabhängig von der Gegenwart zelliger Elemente vorkommen, und deren Zusammenhang mit der natürlichen und erworbenen Immunität nach allen bisherigen Erfahrungen sicher angenommen werden zu können scheint. Es dürfte sich dabei um Eiweißstoffe von sehr labiler Beschaffenheit handeln, für die Buchner den Namen Alexine vorschlägt.

Am zweiten Sitzungstag wurde in der ersten Sektion über Diphtherie verhandelt, und namentlich Bergerons Vortrag über die Verbreitung der Diphtherie in Europa während der letzten 50 Jahre brachte viele interessante Einzelheiten. In der zweiten Sektion brachten Laverau (Paris) und Celli (Rom) erwähnenswerte Mitteilungen über die Ätiologie der Malaria. Am dritten Tage verhandelte die erste Sektion über den Alkoholismus und Influenza, in der Schlußsitzung über Einrichtung von Krankenhäusern. Die zweite Sektion verhandelte am dritten Tage gemeinsam mit der dritten Sektion über die Tuberkulose und gelangte, an-^[folgende Seite]