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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Innere Medizin (10. Kongreß, Wiesbaden 1891)
Schmerzen lindert und seinen Mut hebt, wurde als minderwertig zurückgestellt. Vielleicht ist diese Richtung der Therapie dadurch begünstigt worden, daß die Kliniken, die Pflegestätten' der wissenschaftlichen Therapie und die Bildungsstätten der Ärzte, an die großen Krankenhäuser angeschlossen, mit der ärmsten Menschenklasse zu thun haben, und daß ihnen die Mittel zur Pflege der Kranken im allgemeinen nur kärglich zugemessen wurden. Unter solchen Verhältnissen blieb eine spezifische Therapie das Ideal. Je weniger aber dies Ideal sogleich zu erreichen war, um so mehr verlor die Therapie ihr Selbstvertrauen, wurde unsicher und nihilistisch. Im ganzen Verlauf der Wissenschaft gehen zwei fundamentale Richtungen der Therapie nebeneinander her und wechseln ab, bald die eine, bald die andre im Übergewicht. Die eine Richtung findet ihre Aufgabe in der Auffindung und Anwendung von spezifischen Heilmitteln für jede Krankheit, die andre sieht in der Therapie eine Kunst, die alle Hilfsmittel, welche Wissenschaft und Kunst, Kultur und Industrie nach Menschenkenntnis und Erfahrung darbietet, planmäßig und ausschließlich zum Heil der Krankheiten verwertet. Lange behielt die Hippokratische Medizin die Oberhand und fand in der berühmten klinischen Schule zu Leiden sowie in der nicht minder berühmten ältern Klinik zu Wien ihre höchste und vollendete Entwickelung. Die Schwäche dieser Schule, die mangelhaften positiven Kenntnisse der krankhaften Lebensvorgänge, bildete eine Lücke, welche durch die neueste wissenschaftliche Epoche der Medizin in überraschend schnellen Fortschritten ausgefüllt worden ist. In der letzten Zeit, vornehmlich im letzten Jahrzehnt, hat nun die der praktischen Medizin nahestehende Disziplin der Hygiene im Anschluß an die Bakteriologie und unter kräftiger Förderung durch Staat und Gemeinde eine wichtige Rolle gespielt. Wir können es nur mit Dank begrüßen, wenn eine so wichtige Disziplin, welche eine Zeitlang zurückgeblieben war, den ihr gebührenden Platz gefunden hat. Nur dürfen wir neben der Hygiene nicht der Kranken vergessen. Der eigentliche humane Kern der Medizin liegt doch in der Hilfe, welche wir dem Kranken angedeihen lassen, und die Hygiene kann dazu kommen, daß sie in einen gewissen Gegensatz zu den humanen Aufgaben der Medizin tritt. Sie schützt den Gesunden auf Kosten der Kranken. Der kranke Mensch als der unzweifelhafte Träger der pathogenen Mikroorganismen wird zur drohenden Gefahr für den Gesunden, und es kann dazu kommen, daß der Gesunde in dem Kranken mehr den Feind sieht, den er fliehen muß und vor dem er sich schützt, als den unglücklichen hilfsbedürftigen Menschen, welchem er selbstlos zur Hilfe eilen sollte. Mit der Hygiene hat die Bakteriologie gerade im letzten Jahrzehnt ihre großartige Entwickelung genommen. Den Gipfelpunkt des Interesses hat die Bakteriologie erreicht durch die jüngst vielbesprochene Entdeckung von Koch. Noch nie hat eine medizinische Entdeckung eine so allgemeine Aufregung hervorgerufen. Vergeblich rief der Entdecker und warnte vor zu hoch gespannten Erwartungen. Je mehr er zurückhielt und sich in Geheimnis hüllte, um so mehr Spielraum ließ er der weitgehendsten Phantasie. Die Sage vom Allheilmittel schien eine Thatsache geworden. Der Tod schien überwunden, und hinter aller. Freude lauerte die Furcht vor schnell wachsender Übervölkerung. Man kann sich nicht verhehlen, daß manches, was sich an die Entdeckung anhängte, wenig erfreulich war, und daß es für die Medizin und den ärztlichen
Stand besser gewesen wäre, wenn durch Darlegung der neuentdeckten Thatsachen Klarheit und Maß gegeben worden wäre. Nur schwer gelang es besonnener Prüfung, sich Gehör und Berechtigung zu verschaffen. Die öffentliche Meinung war festgelegt worden, das Urteil der Laien abgeschlossen, ehe noch die wissenschaftliche Prüfung begonnen hatte. Indessen der Lehrsatz des Hippokrates, in der Medizin soll man nichts ungeprüft verwerfen und nichts ungeprüft annehmen, besteht auch heute noch zu Recht, und es wäre vielleicht besser gewesen, wenn man sich frühzeitig seiner erinnert hätte. Nur allmählich ist die vorsichtige und wissenschaftliche Prüfung zur Geltung gekommen, welche nun nach und nach den Kern ausschälen und das übertriebene Beiwerk beiseite schieben wird. So viel steht heute schon fest, daß auch dieneue Heilmethodenur dann Segen verspricht, wenn sie nicht zu einem schematischen 'Mechanismus herabsinkt. Sie wird sich den bisherigen ärztlichen Erfahrungen und Methoden anzuschließen haben, statt sie beiseite zu schieben.
Den ersten Vortrag hielt Naunyn - Straßburg über Ga Uensteinkrankheiten. Er konstatierte das ungemein häufige Vorkommen der Gallensteine.
Etwa der zehnte Teil aller Leichen von Erwachsenen wird mit Gallensteinen angetroffen. Die Ursache des Entstehens der Gallensteine hat man in der Uberladung der Galle mit den schwer löslichen Steinbildnern oder in dem Verluste der Fähigkeit der Galle, letztere zu lösen, gesucht. Auch sollte die Änderung der Reaktion in Betracht kommen, welche die Galle bei krankhaften Zersetzungen erleidet. Immer ließ man dabei Katarrhe der Gallenwege mitspielen. Diese Annahmen sind nach Naunyn unhaltbar. Von Steinbildnern kommen hauptsächlich Cholesterin und Bilirnbinkalk in Betracht. Der Cholesteringehalt ist nun ein auffallend konstanter, er beträgt beim Menschen fast stets, auch in den verschiedensten Krankheiten, 2 Proz. der festen Bestandteile, wird (bei Hunden) auch durch die Art der Ernährung fast gar nicht beeinflußt und ist vor allem.unabhängig vom Cholesteringehalt des Blutes. Ähnlich verhält es sich mit dem Bilirubinkalk. Auch wurde konstatiert, daß Galle stets im stände ist, bei Körperwärme mehr Cholesterin zu lösen, als sie davon enthält. Die bisherigen Angaben über das Vorkommen von Gallensteinen in bestimmten Bevölkerungsschichten, unter bestimmten Ernährungsverhältnissen sind wenig zuverlässig. Aus einer umfangreichen und sehr zuverlässigen Erhebung im Straßburger pathologisch-anatomischen Institut ergibt sich, daß Gallensteine im jugendlichen Alter bis zu 30 Jahren auffallend selten sind. Dann werden sie erheblich häufiger, um schließlich mit dem 60. Lebensjahr gewaltig an Häufigkeit zu steigen. Bei Frauen finden sich Gallensteine beinahe fünfmal so häufig wie bei Männern, und zwar sind diejenigen Frauen am häufigsten befallen, welche geboren haben. Aus diesen Thatsachen ergibt sich der Schluß, daß das entscheidende 'Moment für die Entstehung von Gallensteinen in einem Stagnieren der Galle in den Gallenwegen zu suchen ist. Bei Frauen wirken in dieser Beziehung die Kleidung (Schnürleib) und die Schwangerschaft zweifellos ungünstig. Im Greisenalter führt vielleicht eine Art Atome der Gallenwege zu einer Trägheit der Gallenentleerung. Das Konkrement bildetsich infolge eines krankhaften Zerfalles der Schleimhautepithelien der Gallenblase. Das Produkt dieses Zerfalles ist eine braune, amorphe Masse, aus Bilirubinkalk und wechselnden Mengen Cholesterin bestehend.