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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Musiktheoretische Litteratur (Harmonielehre)

unter andern auch (S. 122) gegen seine Lehre von der Akkordverwandtschaft. Eine fast erschöpfende Kritik des Hauptmannschen Systems und eine konsequente Weiterführung des von demselben im Prinzip neu aufgestellten harmonischen Dualismus unternahm Arthur v. Öttingen (»Harmoniesystem in dualer Entwickelung«, 1866). Der Mollakkord ist bei ihm nicht nur von oben nach unten konstruiert, sondern auch nach seinem obersten Ton benannt; die Tonika der Molltonart (in Öttingens Terminologie »Phonika«) ist nicht ein geleugneter Durakkord, sondern ein Mollakkord als prima ratio; die Molltonart hat nicht stereotyp eine Duroberdominante, vielmehr zunächst eine Molloberdominante und erst als Mischgeschlecht (halbphonisch, Hauptmann müßte sagen »Durmoll«) eine Duroberdominante, wie auch Dur eine Mollunterdominante haben kann (Hauptmanns »Molldur«); zudem werden noch einige weitere mögliche Mischgeschlechter entwickelt. Die Verwandtschaftslehre ist zu größter Klarheit entwickelt, überhaupt ein ganz neuer Ausbau der Theorie angedeutet. Das Werk ist epochemachend. Öttingens Arbeit nahm H. Riemann auf und ergänzte sie durch Ausarbeitung einer neuen Bezifferung (s. oben); derselbe versuchte auch in seiner »Systematischen Modulationstheorie« (1887) und dem »Katechismus der Harmonielehre« (1890), das Modulationswesen auf eine sichere Basis zu stellen (als Lehre von den Funktionen der Harmonie [Tonika, Unter- und Oberdominante] und deren Umdeutungen). Weiter schlossen sich mehr oder minder eng an: Adolf Thürlings (»Die beiden Tongeschlechter und die neuere musikalische Theorie«, 1877) und Ottokar Hostinsky (»Die Lehre von den musikalischen Klängen«, 1879). Ein eigentümlicher Versuch, Hauptmanns Theorie des Moll zu retten und doch die Öttingensche Konsequenz der Durchführung zu wahren, ist Anton Krispers »Die Kunstmusik in ihrem Prinzip, ihrer Entwickelung und ihrer Konsequenz« (1882); Krisper ermöglicht das, indem er dem Moll mit Duroberdominante das Dur mit Mollunterdominante als »vollkommenen Durbestimmungsausdruck« gegenüberstellt. Auch Julius Klausers »The septonate and the contralization of the tonal system« (1889) steht auf dem Boden der neuesten Fortschritte, hält aber wie Hauptmann die Duroberdominante für Moll fest und hat die besondere Eigentümlichkeit, als Melodiengrundlage nicht eine Oktavenskala, sondern eine Septimenskala mit der Tonika in der Mitte ^[Abbildung] anzunehmen, was zunächst eine befremdende Vertauschung der Namen der Ober- und Unterdominante ergibt, übrigens aber ein guter Gedanke ist. Wenigstens könnte man Klausers plagale Septimenskala neben Dräsekes authentischer (»Die Beseitigung des Tritonus«, 1878; nämlich: ^[Abbildung] als zweite Melodiengrundlage) gelten lassen. Ebenfalls erwähnenswert, weil originell und nicht ungereimt, ist Friedrich Mertens »Harmonische Klangbildung aus dem Grundakkord« (1891). Das Buch bringt die ärgerliche Neuerung, daß es a c e den C moll-Akkord nennt; der Gedanke selbst aber, die beiden Akkorde, welche dieselbe große Terz haben, als einander besonders nahestehend zu behandeln, ist sicher gut. Die Musikbeispiele des Buches lassen übrigens auf die musikalischen Eigenschaften des Verfassers keine günstigen Schlüsse zu.

Mit besonderer Auszeichnung müssen wir Helmholtz’ »Lehre von den Tonempfindungen« (1863, 4. Aufl. 1877) gedenken, welche einen großen Einfluß auf die neuere Musik ausgeübt hat, sofern sie die Rameausche Idee der Begründung der Harmonielehre durch akustische Phänomene wieder aufnahm und mit allen Mitteln der fortgeschrittenen Naturforschung im einzelnen ausführte. Die Lehre von der Tonverwandtschaft hat damit wohl für alle Zeiten eine feste wissenschaftliche Grundlage erhalten; die von einigen andern Theoretikern (Marx, Hauptmann) geahnte und mehr oder minder deutlich ausgesprochene Terzverwandtschaft der Klänge und Tonarten (und zwar auch der gleichgeschlechtigen, z. B. C dur und E dur oder As dur, A moll und F moll oder Cis moll) ist zu einem unumstößlichen Lehrsatz geworden. Ganz verfehlt ist freilich Helmholtz’ Erklärung der Mollkonsonanz und die Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz, welche von Öttingen und Lotze (»Geschichte der Ästhetik in Deutschland«, 1868) treffend kritisiert und, wie bereits angedeutet, von ersterm durch bessere Ausführungen ersetzt wurde. Moll ist eben kein verdorbenes Dur, sondern selbst etwas dem Dur vollkommen Gleichberechtigtes und in manchen Epochen sogar Vorgezogenes; Dissonanz aber ist nicht Übelklang, sondern Zwieklang - es gibt musikalische Dissonanzen in Fülle, für welche die Theorie der Schwebungen keine Erklärung bringt. Auch die angezogenen Schriften von Hostinsky und Riemann beschäftigen sich näher mit diesen Problemen, und der letztere hat versucht, die Dissonanzlehre auszubauen und nachzuweisen, daß das Musikhören ein Vorstellen, nicht aber ein passives Aufnehmen von Gehörseindrücken ist. Eine Reihe theoretischer Schriften von Otto Tiersch (»System und Methode der Harmonielehre«, 1868; »Kurze praktische Generalbaß-, Harmonie- und Modulationslehre«, 1876; »Kurzes praktisches Lehrbuch für Kontrapunkt und Nachahmung«, 1879; »Kurzes praktisches Lehrbuch für Klaviersatz und Akkompagnement«, 1881) ist von ihrem Autor in der Absicht verfaßt, eine Verschmelzung der Lehren Hauptmanns und Helmholtz’ zu bewirken (vgl. sein Vorwort), eine teils unmögliche, teils sehr schwere Aufgabe. Wenn dem Verfasser auch zuerkannt werden muß, daß er richtigen musikalischen Instinkt, ingleichen Verständnis für die Ergebnisse der Helmholtzschen Untersuchungen offenbart, so fehlt ihm doch die Gabe, die einfachsten Formen für die Mitteilung seines in sich übrigens konsequenten Systems zu finden. Tiersch ist harmonischer Dualist, aber im engen Anschluß an Hauptmann, d. h. Moll kommt auch bei ihm zu kurz, was im Hinblick auf die Beziehung zu Helmholtz freilich nur um so erklärlicher ist. Tiersch kennt in Wirklichkeit nur die Beziehungen der Töne auf einen Grundton, wie auch Hauptmann trotz des Scheines des Gegenteils nur sie kennt (vgl. »Natur der Harmonik etc.«, § 31); die wirkliche Einheitsbedeutung für den Mollakkord ist aber nur durch konsequentes, ohne alle Reserve zugegebenes Denken der Grundintervalle (Quint und Terz) von oben nach unten zu gewinnen. Akkordverwandtschaft und Modulation sowie ähnliche aus dem obersten Prinzip abzuleitende Begriffe können sonst nicht anders als einseitig in halbem Dursinn ausfallen. Nur A. v. Öttingen und H. Riemann sind hier ganz konsequent vorgegangen und fanden damit den Schlüssel für die harmonischen Fundamente der Favoritskalen des Altertums (dorische Tonleiter der Griechen) und Mittelalters (phrygischer Kirchenton) wie für die Nationalmelodik der nordischen Völker (Skandinaven, Schotten, Russen).

Wenn schon Riemann gegenüber Helmholtz die Unzulänglichkeit der mathematischen und physikalisch-physiologischen Darlegungen für die Erklärung der