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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Musiktheoretische Litteratur (Harmonielehre)

(1853), ging eine kleine Schrift eines seiner Schüler, Otto Kraushaar, voraus: »Der akkordliche Gegensatz und die Begründung der Mollskala« (1852), die übrigens in der Entwickelung der Konsequenzen des leitenden Grundgedankens weiter ging als Hauptmann selbst. Die Zarlinosche Erklärung der Mollkonsonanz und Durkonsonanz durch die beiden Reihen der ganzen Zahlen und der einfachen Brüche (s. oben) war bereits 1754 von dem berühmten Geiger G. Tartini (»Trattato di musica«) in vervollkommter Gestalt erneuert worden. Auch schon Rameau hatte, als er die Durkonsonanz durch das Phänomen der Obertöne (sons harmoniques) begründete, versucht, für die Mollkonsonanz ein gegensätzliches Phänomen als Erklärung aufzuweisen. Seine Bemerkung, daß durch das sogen. Mittönen alle die Saiten in Schwingung geraten, von denen ein angegebener Ton Oberton ist, und daß diese Saiten von dem erregenden Ton aus eine Reihe darstellen, welche der der Obertöne als vollkommener Gegensatz entspricht:

(Obertöne)^[Abbildung]

und

(Untertöne)^[Abbildung]

und den Mollakkord ergibt, wurde durch d’Alembert, den gelehrten Physiker und Kommentator der Lehre Rameaus (»Éléments de musique théorique et pratique, suivant les principes de M. Rameau«, 1752; übersetzt von Marpurg 1757), dahin berichtigt, daß jenes Mitschwingen nur den erregenden Ton verstärkt, nicht aber die Eigentöne der tiefen Saiten hervorruft. Rameau mußte sich daher begnügen, den Mollakkord als einen Zusammenklang nächstverwandter Töne zu bezeichnen, der dem Durakkord gegensätzlich sei. Tartini fand aber ein wirkliches Phänomen, das geeignet schien, die vermißte natürliche Begründung des Mollakkords zu geben, in den Kombinationstönen, die er bereits 1714 entdeckt hatte. Der Hauptkombinationston eines Intervalls ist nach Tartinis rektifizierter Aufstellung in der Schrift »De’ principj dell’ armonia« (1767) der erste gemeinsame Unterton der beiden Töne. Tartini stellte daher, wie Zarlino, die beiden Reihen der Ober- und Untertöne einander gegenüber und betonte ausdrücklich, daß es verkehrt sei, den Mollakkord als einen Akkord mit kleiner Terz anzusehen; er habe eine große Terz wie der Durakkord, aber man müsse sich den Akkord von oben herunter denken: ^[Abbildung] a.c.e. Dieser Gedanke erlebte nun 300 Jahre nach Zarlino und 100 Jahre nach Tartini die dritte Geburt im System Moritz Hauptmanns. Hauptmann kennt, wie Tartini, nur eine Art der Terz, die große; die kleine Terz ist nur der Zusammenklang des Quinttons mit dem Terzton. Die vollendete, bis dahin unerhörte philosophische Form, in die Hauptmann seine Lehre kleidete, verhinderte einerseits eine allgemeine Verbreitung derselben und täuschte anderseits über ihre Schwächen hinweg. Der Hauptfehler des Hauptmannschen Systems ist die Inkonsequenz in dem Ausbau der Theorie der Molltonart; hatte er den Mollakkord als strikten Gegensatz des Durakkords definiert, so verbaute er sich selbst eine glückliche Fortführung durch die unlogische Definition der Molltonart (S. 36): »Der Mollakkord als geleugneter Durakkord wird diesen selbst, dessen Negation er ist, erst wirklich voraussetzen müssen (als Dominante); denn es kann etwas Wirkliches nicht vom Negativen ohne positive Voraussetzung ausgehen. Es kann aber das Moment der Negation als Hauptbestimmung gesetzt werden ... als Tonika.« Das ist falsch. Seit Fétis wissen wir, daß Tonart oder Tonalität die Auffassung von Klängen nach ihrer Stellung zu einem das Zentrum bildenden Hauptklang ist; dieser letzte Einigungspunkt der Beziehungen kann aber doch unmöglich ein Gebilde sein, das selbst wieder etwas Bezogenes, eine bloße Negation ist. Aber auch abgesehen von diesem logischen Fehler, ist die Definition verhängnisvoll; die Duroberdominante als conditio sine qua non schneidet der Molltonart die Beziehungen zu den durch steigende Quint- und Terzschritte zu erreichenden Molltonarten ab. Die Lehre von der Verwandtschaft der Molltonarten ist daher wieder ein wunder Fleck im System. Eine fernere Sonderbarkeit in Hauptmanns System ist seine Lehre von der Verbindung der Akkorde; dieselbe steht in ganz unbegreiflicher Weise außer Zusammenhang mit dem Grundgedanken seines Systems. Es erscheint da mit einemmal die Gemeinschaftlichkeit von Tönen als Zeichen der Klangverwandtschaft (S. 78): »Es kann immer nur gleichzeitig zusammengefaßt werden, was eine harmonische Einheit, d. h. ein gemeinschaftliches Intervall, hat, d. h. zwei Dreiklänge, die in zwei Tönen verwandt sind; denn es ist eben nur der Übergang in das Nächste die unmittelbar verständliche Folge.« Hauptmann vermittelt die Folge der Akkorde g.h.d und g.c.e durch g.h.e und die Folge f.a.c - g.h.d durch f.a.d und f.h.d. Das ist ja noch schlimmer als Sechters Hilfsfundamente. Daß Klänge, die im Verhältnis von Tonika und Dominante stehen, keiner Vermittelung bedürfen, sondern selbst die allernächst verwandten sind, ist so sehr Überzeugungssache jedes Unbefangenen, daß die Aufstellung derartiger komplizierten Erklärungen nur abschreckend wirken kann. Auch Hauptmanns Definition der Septimenakkorde als Ineinanderliegen zweier Dreiklänge, z. B. g.h.d.f als g.h.d und h.d.f, ist nicht annehmbar. Und Hauptmann vergißt zu bald, daß nach seinem Fundamentalsatz h.f keine Quinte und h.d keine Terz ist.

Die persönlichen Schüler Hauptmanns haben nichts gethan, um diese Schäden zu bessern; sie stehen ohne Ausnahme so im Banne der Worte ihres Meisters, daß sie es über Kommentare und kleine Ergänzungen nicht gebracht haben. Das gilt in erster Linie von O. Paul (»Die Lehre von der Harmonik« [nachgelassenes Werk Hauptmanns] und »Lehrbuch der Harmonik«, 1880), auch von W. A. Rischbieter (»Über Modulation, Quartsextakkord und Orgelpunkt«, 1879; »Die Gesetzmäßigkeit der Harmonik«, 1888). Einzig und allein Otto Bähr hat es gewagt, dies und jenes auszusetzen in seinem Buch »Das Tonsystem unsrer Musik« (1882); leider trifft er aber nicht die Hauptpunkte und verunglückt gänzlich mit dem Versuch, das Hauptmannsche System mit dem Helmholtzschen auseinanderzusetzen (zu gunsten des erstern). Louis Köhler ist zwar nicht Hauptmanns persönlicher Schüler, hat aber seine Lehre zweimal buchstabengetreu wiedergegeben (»Systematische Lehrmethode für Klavierspiel und Musik«, 2. Bd.: »Musiklehre« [Tonschriftwesen, Metrik, Harmonik], 1858, und »Allgemeine Musiklehre«, 1883). Auch Felix Dräsekes »Lehre von der Harmonik, in lustige Reimlein gebracht« (1884), gehört hierher. Das geistvolle »System der Tonkunst« von Eduard Krüger (1866), in seiner Totalität mehr eine scharfsichtige Übersicht als ein ausgeführtes Lehrbuch, enthält eine Reihe wohlbegründeter Bedenken gegen Hauptmanns Lehrsätze,