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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Musiktheoretische Litteratur (Harmonielehre)

dem aus er durch Ansetzung von Terzen oben oder unten den Dominantseptimenakkord, kleinen Septimenakkord (h.d.f.a), verminderten Septimenakkord und großen und kleinen Nonenakkord gewinnt. Da auf diesem Wege Gebilde wie d.f.a.c nicht zu finden sind, werden dieselben als nebensächliche, zufällige Bildungen angesehen. Ein Unikum ist auch Grädeners Ableitung der diatonischen Tonleiter aus der chromatischen (einen Auszug aus Grädeners System gab sein Schüler Max Zoder: »Kurzgefaßte Harmonielehre«, 1881). Mit solchen Haarspaltereien ist viel Zeit und Arbeit vergeudet worden, gar nicht zu gedenken der aus der Kontrapunktlehre entstandenen Streitigkeiten über die Dissonanz oder Konsonanz der Quarte, die auch noch in Dehns System spuken. Da war es doch eine dankbarere Aufgabe, der sich einige andre Theoretiker ebenfalls im Anschluß an Rameaus nach so vielen Seiten anregenden Ideen unterzogen, nämlich der Versuch, die Gesetze der Akkordverbindung, der Klangfolge, zu ergründen. Rameaus Zurückführung der Akkorde auf ihre Stammformen (in Terzenaufbau etc.) legte den Gedanken nahe, die Intervalle zu verfolgen, in welchen die Grundtöne dieser Stammformen einander gewöhnlich folgen, und dabei stellte sich heraus, daß die Quint- (resp. Quart-) Schritte in dieser (fingierten) Fundamentalstimme (der sogen. Basse fondamentale) eine besonders hervortretende Rolle spielen, während in zweiter Linie Terzschritte (doch meist nur von Dur- zu Mollakkorden oder umgekehrt) in Betracht kommen. Diese Beobachtung führte mm aber zu seltsamen Auswüchsen, da man Sekundschritte des Fundaments einfach negieren zu müssen glaubte; zwei neuere Werke, in denen dieser Satz festgehalten ist, sind Simon Sechters »Grundsätze der musikalischen Komposition« (1853-54) und K. Mayrbergers »Lehrbuch der musikalischen Harmonik« (1878). Um sich eine rechte Vorstellung zu machen, wozu eine solche Prinzipienreiterei führen kann, sei nur erwähnt, daß nach beiden Werken das Fortschreiten vom Unterdominant- zum Oberdominantakkord (z. B. F dur - G dur) nur begreiflich und statthaft erscheint, indem man zwischen beiden als Hilfsfundament die kleine Unterterz der Unterdominante ergänzt (d), und daß ebenso nach beiden Werken die natürlichste Fortschreitung vom Unterdominantakkord aus die in dem verminderten Dreiklang auf der siebenten Stufe ist (h.d.f). Jeder unbefangene Anfänger oder jedes musikalisch beanlagte Kind würde aber eher zu jeder andern Harmonie der Tonart als gerade zu dieser weitergehen. Das Irrige der in beiden Werken als Hauptlehrsatz hervortretenden Annahme, daß alle Quint- und Quartschritte des Fundaments gleich gut oder ähnlich gut seien wie der entsprechende Schritt von der Dominante zur Tonika, hat zuerst Fétis (s. unten) schlagend bewiesen, indem er darauf hinwies, daß jener Irrtum der Liebhaberei für Sequenzen entstammt, die aber gar nicht harmonische, sondern melodische Bildungen sind. Wenn auch nicht zu einem geschlossenen System von eiserner Logik und Konsequenz (was nützt dieses, wenn das Fundament schlecht ist?), wohl aber zu höchst wertvollen Beobachtungen und für die Praxis direkt nutzbaren Anweisungen brachte es der braunschweigische Kammermusiker Ad. Jos. Leibrock in seiner »Musikalischen Akkordlehre« (1875). Ein wenig mehr Ökonomie und eine etwas systematischere Anordnung, und das Werk hätte großes Aufsehen erregen müssen, anstatt als eine litterarische Sonderbarkeit belächelt und beiseite gelegt zu werden. Leibrock hat ein so intensives Gefühl für die tonale Logik, daß er wahre Goldkörner in Fülle in alle Kapitel seines Buches verstreut, die nur leider gesucht sein wollen, um gefunden zu werden. Direkt ins Auge springend sind nur die hervorragende Bedeutung, welche Leibrock der Unterdominante beimißt, und das fortwährende Festhalten des Bewußtseins der Stellung der Akkorde in der Kadenzbildung, während andre Theoretiker sich immer gleich in Sequenzen verlaufen. Goldne Wahrheiten sind aber auch seine Andeutungen über die Dissonanz des Quartsextakkords, über die häufige Scheinkonsonanz der Mollakkorde in Dur etc. Eine Analyse des Buches ist hier unmöglich, man muß es lesen. Die Darstellung Leibrocks hat manches Verwandte mit Riemanns »Musikalische Logik« (1873) und »Musikalische Syntaxis« (1877), welch letztere Schrift ausdrücklich als »Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre« bezeichnet ist. Ein speziell die modulierende Modulation untersuchendes, leider nicht systematisches, sondern nur praktisch routiniertes und etwas einseitiges Schriftchen von Felix Dräseke, »Anweisung zum kunstgerechten Modulieren« (1876), sei gleich hier angeschlossen (dasselbe Urteil gilt für die »Modulationsbeispiele« von B. Rollfus, 1889); die »Schule des Harmonisierens, Modulierens und Präludierens im Kirchenstil«, von Otto Tiersch (1889), soll einem Spezialzweck dienen, verzettelt sich aber in Allgemeines. Sehr viel wertvoller, wenn auch nicht als System, so doch als überaus reiche und interessante Beispielsammlung ist Bernhard Ziehns »Harmonie- und Modulationslehre« (1889). Fétis’ »Traité de la théorie et de la pratique de l’harmonie« (1844, 12. Aufl. 1879) hat überall das größte Aufsehen gemacht, nur nicht in Deutschland, vermutlich darum, weil bei uns zunächst Marx das Feld beherrschte und sodann Hauptmann in noch intensiverer Weise das Interesse gefangen nahm. Fétis hat aber das große Verdienst, den ewigen Spiegelfechtereien um Stamm- und Nebenakkorde, erlaubte und unerlaubte Harmoniefortschreitungen definitiv ein Ziel gesetzt zu haben, indem er den ganzen Apparat der Harmonielehre in beispielloser Weise vereinfachte und als selbständige Bildungen nur noch den Dur- und Mollakkord und den Dominantseptimenakkord anerkannte. Seine Aufstellung des Prinzips der Tonalität (Auffassung der Akkorde im Sinne der Tonika, nach ihrer Stellung zu dieser) ist eine wahrhaft große Enthüllung, deren Tragweite noch heute nur von wenigen voll erkannt ist. Streift man noch die letzte Schlacke ab, die an Fétis’ System als Erinnerung an die Irrwege der ältern Theorie hängen geblieben ist, nämlich das Festhalten des Dominantseptimenakkords als einer Grundharmonie (die Septime ist natürlich ebensogut ein Zusatz zum Durakkord, wie es die Sexte sein würde), so ist der Läuterungsprozeß thatsächlich vollzogen und das Prinzip des musikalischen Hörens klargelegt, d. h. die alleinige Bedeutung des Durakkords und des Mollakkords als wirklicher Grundharmonien, wie solche schon Zarlino angedeutet hatte, aufgewiesen, und man könnte höchstens noch wünschen, die Fassung in der Art verändert zu sehen, daß Moll und Dur konsequent auch in allen Folgerungen als Gegensätze festgehalten werden.

Dieser letzte Schritt sollte nicht auf sich warten lassen. Der Mann, welchem es beschieden war, mit der Aufstellung des polaren Gegensatzes von Dur und Moll einen großen Erfolg zu erringen, ist Moritz Hauptmann. Dem Erscheinen seines bedeutenden Werkes: »Die Natur der Harmonik und der Metrik«