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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Musiktheoretische Litteratur (Kontrapunktlehre)

zu höchster Vollkommenheit aus. Die Unterscheidung vollkommener und unvollkommener Konsonanzen, auf welche die Hausregeln der Kontrapunktlehre basiert sind, entstammt dieser Zeit, was sich deutlich genug darin kennzeichnet, daß man kein Lehrbuch des Kontrapunktes in die Hand nehmen kann, ohne auf Schritt und Tritt lateinischer, mindestens italienischer Terminologie zu begegnen. Den Cantus firmus könnte man sich gefallen lassen, aber wozu der Motus rectus, obliquus und contrarius, der Contrapunctus aequalis, diminutus, ligatus und floridus und bei der Imitationslehre die proposta, und risposta und der ganze übrige veraltete Jargon gut sind, ist doch schlechterdings nicht einzusehen. Heinrich Bellermanns »Kontrapunkt« (1861, 2. Aufl. 1877) sieht viel eher wie ein Stück mittelalterlicher Musikgeschichte aus als wie ein Handbuch für einen Zweig des heutigen Kompositionsunterrichts. S. W. Dehns Manier war es auch, Theorie vorzutragen im Gewand der Musikgeschichte und mit großem Citatenapparat; es ist daher dankbar anzuerkennen, daß der Herausgeber der Dehnschen »Lehre vom Kontrapunkt, dem Kanon und der Fuge« (1859, 2. Aufl. 1883), Bernhard Scholz, mit solchem gelehrt aussehenden Putze sparsam gewesen ist und ohne Zweifel das Dehnsche Manuskript wesentlich vereinfacht hat. Auch am innern Ausbau der Lehre hat Scholz mancherlei modernisiert, besonders in der zweiten Auflage, ohne jedoch das herkömmliche Schema anzutasten. Während Bellermann sklavisch die alte Fassung der Lehre festhält, selbst die mittelalterlichen Kirchentöne für unentbehrlich zur Gewinnung wirklicher kontrapunktischen Routine ausgibt, unterscheidet Scholz einen strengen (für den Vokalstil vorbildenden) und freien Kontrapunkt und sieht von den Kirchentönen überhaupt ganz ab. Auch fühlt man überall aus Scholz’ Buch das abgeklärte moderne Harmoniesystem heraus, während Bellermanns Werk kaum etwas andres ist als eine Neuherausgabe des »Gradus ad Parnassum« von J. J.^[Johann Joseph] Fux (1723; deutsch von Mitzler, 1742), der selbst schon in der Zeit seines Erscheinens ein veraltetes Buch war, was nicht verhinderte, daß er allgemeine Verbreitung fand und verschiedentlich in fremde Sprachen übersetzt wurde. Der Kontrapunkt war eben (und ist noch heute halb und halb) die Hochschule musikalischer Gelehrsamkeit, und man that sich ordentlich etwas darauf zu gute, daß er nicht leicht zu verstehen sei. Es bedarf wohl keiner Worte, daß nur die Lehre ihn schwerverständlich machte, daß seine Erlernung aber nicht von der Lehre, sondern von guter Überwachung der praktischen Übungen abhing und abhängt. Die Lehre des doppelten Kontrapunktes war noch viel überladener als die des einfachen, und gar in der Lehre vom Kanon traten dem Schüler wahre Schreckgespenster mit fremdsprachigen Namen und rätselhaften Inschriften entgegen, die sich bei näherer Bekanntschaft als harmlose Kunststückchen herausstellten, wie ihrer mit fortschreitender Routine jeder neue Adept selbst neue hinzu erfinden konnte. Erst in der Fugenlehre verschwand der Spuk, um verständigen Anweisungen über eine kunstgerechte Gestaltung Platz zu machen. Es sei uns fern, an der Bedeutung der kontrapunktischen Übungen zu zweifeln. Das Erfinden natürlich fließender Gegenstimmen überhaupt und in zweiter Linie auch solcher, welche ohne Fehler ihre Stellung zur Hauptstimme (in Bezug auf oben und unten) wechseln können, ist dem Komponisten gewiß nötig, wenn auch nicht so unentbehrlich wie das freie Erfinden selbständiger Melodien; daß man dieses über jenes und die Harmonielehre vergißt, ist und bleibt unverantwortlich. Frei von gelehrtem Wesen, aber befangen im alten Schema (doch ohne die Kirchentöne) ist E. F. Richters »Lehrbuch des einfachen und doppelten Kontrapunkts« (1872, 3. Aufl. 1879) sowie das ganz in dessen Fußstapfen tretende »Lehrbuch des einfachen, doppelten, drei- und vierfachen Kontrapunkts« von S. Jadassohn (1884). Auch L. Bußlers Kontrapunktlehre (»Der strenge Satz«, 1877) klammert sich zu sehr an die Tradition an und vermag von den neuen Fortschritten in der Erkenntnis der Gesetze der Tonverbindungen nicht genug Nutzen zu ziehen; er steht mit der überlieferten Intervallentheorie und der Zugrundelegung der Kirchentonarten für die Studien im »strengen« Satz neben Bellermann, was um so auffälliger ist, als seine »Praktische Harmonielehre« (1875) das Verbot verdeckter Oktaven und Quinten für ein Hirngespinst der Theoretiker erklärt. Otto Tiersch (»Kurzes praktisches Lehrbuch für Kontrapunkt und Nachahmung«, 1879) sucht die Ansicht Dehns und Richters, daß der Kontrapunkt aus der Harmonielehre herauszuwachsen habe, in umfassenderer Weise zu bethätigen als die genannten ältern Lehrer und überträgt die Grundsätze seines Systems der Harmonielehre auf den Kontrapunkt. Er stellt dabei eine sehr große Zahl von Regeln auf, deren Berechtigung jedoch nur zum Teil anerkannt werden kann. Einen ähnlichen Versuch machte H. Riemann mit seiner »Neuen Schule der Melodik« (1883), die zwar als Entwurf einer Lehre des Kontrapunkts bezeichnet ist, indes für den freien eigentlichen Kontrapunkt (ohne gegebene Harmonie) nur wenige allgemeine Anweisungen enthält und den doppelten Kontrapunkt, Kanon und Fuge gar nicht in ihren Bereich zieht, sondern doch eigentlich nur ein Lehrbuch der Figuration und harmonischen Analyse ist, d. h. zum Verständnis auch der kompliziertesten Auflösungen der Harmonie in Melodiebewegung befähigt unter besonderer Berücksichtigung der Schreibweise J. S. Bachs. Riemann brachte daher hiernach noch ein besonderes »Lehrbuch des einfachen, doppelten und imitierenden Kontrapunkts« (1888). Die Fugenlehre hat seit F. Moritz Hauptmanns »Erläuterungen zu J. S. Bachs Kunst der Fuge« und desselben Aufsatz »Über die Beantwortung des Fugenthemas« nur wenig Bereicherung erfahren. Zu erwähnen sind nur Debrois von Bruycks »Technische und ästhetische Analysen des wohltemperierten Klaviers« (1867), die 1889 eine neue Auflage erlebten, Jadassohns »Lehre vom Kanon und der Fuge« (1884), desselben »Erläuterungen zur ausgewählten Fuge aus dem wohltemperierten Klavier« und Riemanns »Katechismus der Fugenkomposition« (1890).

III. Kompositionslehre.

Es fehlte vor Marx keineswegs an Werken, welche den Anspruch machten, vollständige Lehrbücher der Tonsetzkunst zu sein; doch beschränkten sich dieselben fast ausnahmslos auf die Abhandlung der Harmonielehre und allenfalls des Kontrapunktes. Reicha hatte zwar der Melodie ein besonderes Buch gewidmet (»Traité de mélodie«, 1814), war aber damit hinter ältern Behandlungen derselben Materie zurückgeblieben (Matthesons »Kern melodischer Wissenschaft«, 1737; Riepels »Anfangsgründe zur musikalischen Setzkunst«, 1752; Marpurgs »Anleitung zur Singkomposition«, 1758); ein Werk aber, dessen zweiter und dritter Band noch heute einer Neuherausgabe würdig wären, weil thatsächlich bis heute nichts gleich Eingehendes und gleich feinsinnig musikalisch Durchgeführtes über die Grundlage der musi-^[folgende Seite]