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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Staatsromane (kommunistisch-volkswirtschaftliche)

gegenstände werden nicht erzeugt. Die Arbeit dauert 6 Stunden täglich, und die übrige Zeit ist der Ausbildung und Erholung gewidmet. Die schwersten und unreinen Arbeiten werden von Sklaven und Dienern besorgt, welche sich aus den Verbrechern und fremden Einwanderern rekrutieren. Alle Güter sind gemeinsam und ein Privateigentum besteht nicht. Jedermann arbeitet nach seinen Kräften, und jedermann hat den gleichen Anspruch auf alle Güter, je nach seinen Bedürfnissen. Diese Gleichstellung aller kehrt bei allen Kommunisten wieder. Der Überschuß der Erzeugnisse des Landes wird in die Stadt abgeführt, und diese versorgt die Meierhöfe, eben auch umsonst, mit Industrieartikeln. Die Ehe ist monogamisch. Der Haushalt wird meist nicht einzeln geführt, sondern die freie Zeit in den großen gemeinschaftlichen Speisesälen etc. verbracht. Geld gibt es für den Utopier selbst nicht, sondern nur, durch Ausfuhr erlangt, zum Zwecke der Anwerbung von auswärtigen Kriegstruppen. An der Spitze des Staates steht ein lebenslänglicher Wahlfürst, und auch die Beamten sind gewählt. Die Hauptaufgabe des gewählten Parlaments ist die Verteilung der Güter und die Ausgleichung der Bevölkerung, und zwar letztere durch Zuweisung von Kindern an kinderarme Familien, Auswanderung, Kolonisation u. dgl. Da Stolz und Eigenliebe in diesem Staate keinen Raum haben, so herrschen die glücklichsten Verhältnisse.

Dieses kommunistische Gemälde ist nun für die spätern S. grundlegend geblieben. Die drei folgenden von Platon sehr beeinflußten kommunistischen S., welche untereinander eine große Übereinstimmung zeigen, sind von geringem Werte und gehen alle mehr auf das äußerlich Gleichmäßige eines solchen Staats- oder städtischen Lebens, auch was Bauart und Anlage der Orte, die Stellung der beiden Geschlechter etc. anbelangt, ein, als auf nationalökonomische Gedanken; die Staatsverfassung ist bei allen dreien eine theokratische. Es sind folgende Schriften: des Humoristen A. F. Doni »I mondi celesti, terrestri e infernali degli academici Pellegrini« (1552/53), des Dominikaners Th. Campanella »Civitas solis« (1620, schon früher italienisch erschienen), endlich des protestant. Theologen J. V.^[Johann Valentin] Andreae »Reipublicae Christianopolitanae descriptio« (1619), welche gleichsam eine »Civitas solis« vom protestantischen Standpunkte aus darstellt. In Donis »Welten« wird in Form eines Dialoges »zwischen dem Weisen und dem Narren« eine kreisrunde Stadt geschildert, in deren Mitte der Tempel steht, durch dessen 100 Thore man die 100 strahlenförmigen Straßen der Stadt, und durch die 100 Stadtthore ins Freie sieht, wobei jede Straße, die von gleichartigen Gewerben, und jeder Landesteil, der von gleichen Kulturen besetzt ist, unter der Aufsicht je eines Priesters steht, an deren Spitze sich der Oberpriester befindet. Alle Bürger sind gleich und nach dem Alter uniformiert, alles ist gemeinschaftlich, auch die Frauen und Kinder. Die »Sonnenstadt« Campanellas ist in Form eines Dialoges gekleidet, dessen eine redende Person ein Genuese ist, der, auf einer Seereise verschlagen, zufällig in diese Stadt geraten war. Diese auf einem Hügel liegende Stadt besteht (nach Platons Vorbild) aus sieben großen quadratischen Ringgebäuden, die konzentrisch angeordnet sind und sowohl als Wohnhaus als auch als Wall dienen. Dieselben sind durch Thore verbunden und mit Galerien versehen (Arbeits- und Unterrichtsstätten); der Tempel liegt auf der Höhe des Hügels. An der Spitze des Staates steht der Priesterkönig nebst drei weltlichen Herrschern. Der Kommunismus ist vollständig bis zur Weiber- und Kindergemeinschaft. Die Fortpflanzung wird (ähnlich wie bei Platon) nach den Regeln der Zuchtwahl zur Erzielung der besten Nachkommenschaft obrigkeitlich geregelt. Die Lebensführung ist gemeinschaftlich in großen Speise-, Schlafsälen, Arbeitsstätten u. dgl. Die Arbeitsleistung erfolgt gemeinsam unter Leitung selbstgewählter Vorsteher und wird nach der Fähigkeit der einzelnen bestimmt. Stolz gilt als das schwerste Verbrechen und jede Arbeit als ehrenhaft. In Andreäs »Christenstadt«, welche sich an die »Sonnenstadt« eng anlehnt, wird aus derselben alles beseitigt, was religiös und sittlich anstößig ist; es besteht hier z. B. die Monogamie, die Erziehung der Kinder durch die Eltern. Von größerm Werte ist die fesselnd geschriebene, an tiefen, besonders religionsphilosophischen Gedanken reiche »Histoire des Sevarambes« von D. Varaisse, 1677. Der Held des Romans, Kapitän Siden, scheitert mit Schiff und Mannschaft und rettet sich nach vielen Irrfahrten mit der letztern an der damals so sagenumwobenen Küste Australiens zu dem glücklichen Sonnenstaate der Sevarambier, denen vor langer Zeit der weise Perser Savarias Sonnenkult und Staatsverfassung gab, durch welche er Stolz, Geiz, Müßiggang und Ausschreitungen des Geschlechtstriebes, diese vier Ursachen aller sozialen Übel, beseitigen wollte. Der Güterkommunismus ist vollständig und alle Bürger sind gleich. Diese wohnen in großen, mit allem Komfort versehenen Gebäuden (Osmanien, zu rund 1000 Personen) in besondern Familienwohnungen, speisen aber gemeinschaftlich. Die Arbeit erfolgt gemeinsam und von allen durch 8 Stunden täglich; die zweiten 8 Stunden dienen der Erholung und geistigen Beschäftigung, und die dritten dem Schlafe. Die unangenehmen Arbeiten besorgen Sklaven (More). Die Erziehung der Kinder erfolgt (wie bei Andreä) erst nach dem 6. Lebensjahr gemeinschaftlich und für beide Geschlechter ganz gleichmäßig. Die Ehe ist monogamisch und geboten, nur den Magistraten ist Polygamie und allen sind Konkubinen neben der Frau gestattet. Tausch der Ehegatten ist bei allseitiger Übereinstimmung erlaubt. Bei Übervölkerung erfolgt Auswanderung. Die Wehrpflicht ist allgemein und zwar für beide Geschlechter. Die Leitung jeder Osmanie erfolgt durch die Osmasionten, welche zusammen den Großen Rar bilden; daneben besteht noch ein Kleiner Rat und ein Senat. An der Spitze steht der aus vier Gewählten durch das Los bestimmte »Statthalter der Sonne« als ziemlich absoluter Monarch, als Papstkönig. Daneben bestehen die Präfekten der Produktionszweige, die Osmasionten, die Lehrer etc.

Zum großen Teil auf dieser Geschichte der Sevarambier und auf der Utopia fußend, hat dann de Fontenelle sein Werk »La république des philosophes ou histoire des Ajaoiens« (Genf 1768) verfaßt. Der Held desselben, der Holländer van Doelvelt, wird auf einer Seereise in der Nähe Japans durch Sturm an unbekannte Küsten verschlagen und auf der Insel Ajao, dem Schauplatz des Romans, aufgenommen. Die Bewohner glauben nicht an Gott, sondern verehren die Natur als Urgrund der Dinge; die geistige Thätigkeit des Menschen sei nur eine etwas vollkommnere als jene der Tiere und Pflanzen. Sie haben keine Tempel, Priester und Religion. Die politische und wirtschaftliche Verfassung ist ähnlich den Schilderungen von More und Varaisse. Jeder Mann muß zwei Frauen nehmen; die Gütergemeinschaft ist nicht konsequent durchgeführt, indem für gewisse Bedarfsgegenstände ein Tauschverkehr besteht.