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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Ungarische Litteratur der Gegenwart (Roman, Novelle etc.)
psungen sozialistische Akkorde anschlug. Jetzt, in einer befriedigenden Lebensstellung, vertritt er die lnetaphysische Verzweiflung, die blasierte Grübelei, ein i auf dem ungarischen Parnaß bisher fremder Ton.! Palagyi bildet bereits den Übergang zu der jüngsten z realistischen oder naturalistischen Schule, welche sich seit etwa fünf Jahren in Ungarn zu bilden beginnt und vor einem Jahr ein eignes Organ, die Monatsschrift Net« gegründet hat. Ihrer Zehn, an ihrer Spitze der sehr befähigte, universell gebildete Ludwig Katona, bilden sie den Mittelpunkt dieser vielfach angefeindeten Richtung. Die jungen ! Leute sind meist mit den Norwegern in Fühlung, 'chwören nicht höher als bei Ibsen und bringen Originalbeiträge aus dem Norden. So mannigfaltig blühend die gegenwärtige ungarische Lieder-! dichtung auch ist (die von uns angeführten Namen i bilden bei weitem t'ein erschöpfendes Verzeichnis), I ihre Einwirkung auf das Nationalleben kann sich mit! derjenigen früherer Zeiten nicyt messen. In: Vordergrund stehen heute, wie schon bemerkt, der Roman, die Novelle und die »Skizze«, und endlich hat das ^ Drama mehr Terrain erooert als je.
Roman, Novelle:c.
Im Roman, in der Novelle und der »Skizze« beruht heute die volkstümliche Kraft der ungarischen Litteratur. Noch steht Iökai aufrecht, ein schaffensiräftiger Riese, eine merkwürdige, bezaubernde Persönlichkeit, bei Hof ebenso wohl gelitten (er war der Freund des Kronprinzen Rudolf) wie in den tiefsten Schichten des Volkes verehrt, ein ehrwürdiges Haupt, vor d^n gelbst der Radikalisinus sich beugt. In Iökai vereinigt sich der Dichter mit dem Volksführer, er hat das Erbe Petöfis und Aranys allgetreten und genießt in Ungarn eine Verehrung gleich derjenigen, wie sie Vietor Hugo in Frankreich zu teil wurde. Selbstverständlich, daß sich die Tagespresse um seine Schöpfungen reißt. Es dürften gegenwärtig vier Romane gleichzeitig von ihm erscheinen, manche sofort anch in deutscher Sprache. Daneben schreibt er unzählige Plaudereien, Humoresken, Anekdoten, hält Reden vor den Wählern oder im Abgeordnetenhaus, entzückt durch seine Trinksprüche, redigiert den ungarischen Teil des kronprinzlichen Wertes: »Die österreichisch-ungarische Monarchie und schreibt sogar Dramen. Letztere sind die schwache Seite Iökais. Obwohl auch seinen Bühnenwerken keineswegs Phantasie, Empfindung, Humor fehlen, schlägt ihn doch der Epiker zu sehr in den Nacken.
Es fehlt ihm die Bühnentechnik, und so hat eigentlich außer dem > Goldmenschen« kaun: eins seiner vielen Stücke frohern Erfolg gehabt, wenn auch keins derselben bei der großen Beliebtheit des Verfassers einer eigentlichen Ablehnung auf den ungarischen Bühnen begegnete. Seine alten und neuen Romane dagegen sind in aller Händen; die Jugend wächst sozusagen mit ihnen auf. Es wäre schwer anzugeben, in welche Kategorie diese Romane einzureihen sind. Sie tragen alle einen liebenswürdigen, orientalisch-märchenhaften Zug, doch ohne Märchenapparat. Zumeist sind die Charaktere 'elbst fabelhaft wandelbar, und der Zufall oder das Schicksal gefällt sich in den wundersamsten Überraschungen. Die Lebensanschauung ist tief ethisch, die Empfindung zart, die Vortragsweise heiter und spielend. Iökai ist der bedeutendste Märchenerzähler für große Kinder, er hat etwas von Dumas dem ältern in Bezug auf grenzenlose, heitere Phantasie, er liebt Teufeleien ä. Ik Hoffmann, er wird manchmal satirisch wie Hogarth und malt volkstümlich-humoristische Figuren wie kein
zweiter. Er ist national und zugleich universell, in allen Wissenschaften zu Hause und breitet einen glänzenden, aber poetisch gemodelten Wissensreichtum in seinen Werken aus. Er ist auch der Walter Scott seiner Nation, denn niemand hat schönere Phantasiegemälde aus Ungarns Vergangenheit geschaffen. Einer seiner neuesten Romane ist: »Es gibt keinen Teufels worin er den Gedanken, daß die Menschen oft besser sind, als sie scheinen, und daß das Gute wieder nur Gutes schasst, in anmutiger, liebenswürdiger Weise durchführt.
Aus Iökais Schule ist Koloman Mikszäth hervorgegangen, nach ihm der gelesenste Fabel- und Anekdotcnerzähler. Er besitzt weniger überschwä'ngliche Phantasie, vielmehr besteht seine Stärke in der Schilderung der wirklichen Personen und Verhältnisse. Dagegen ist er ein Meister der gedrängten
I Form. In 209 Zeilen weiß er einen kleinen Ro! man zu erzählen. In diesen reizenden Miniaturwerken, die in fast sämtliche Sprachen Europas übertragen wnrden (»Die guten Hochländer« :c.) steht
^ er unerreicht da.
j Als dritte im Bunde muß Frau Helene v. Bett iczky-Bajza genannt werden. Tiefe begabte, ungemein gebildete Frau ist die Tochter des gefürchtetsten ungarischen Kritikers Bajza, in dessen Hause sie mit der Creme der ungarischen Gesellschaft be-. kannt wurde. Heute, als Frau des ehemaligen Staatssekretärs und Intendanten, jetzigen Obergespans Franz v. Beniezky, ist sie die gelesenste Romanschriftstellerin Ungarns, in ihrem Stil einfach, elegant, salonmäßig. Früh zur Produktion angeregt, hat sie in 30 Jahren mehr als 80 Bände geschrieben, aus denen ein kräftiges, volksfreundliches Streben spricht, und in denen sie ihren Standesgenossen das Evangelium der Arbeit und des Fortschrittes predigt. Diese geistreiche, rastlos thätige Frau sucht das Niveau der Litteratur auch sozial zu heben durch Hereinziehung von Schriftstellern in die aristokratischen Kreise. Auch im Drama hat sie sich versucht, aber nur mit einem Volksstück Glück ge! habt. Ein Salondrama von ihr, welches eine »moderne Ehe« zum Thema hat, wird gegenwärtig im Wiener Volkstheater zur 'Aufführung vorbereitet.
Von schriftstellernden Damen haben sich neben ihr Beachtung zu erringen gewußt die Schwestern Wohl (Stephanie Wohl mit dem auch ins Deutsche übersetzten Roman Rauschgold), Frau Gyarmathu, Anna Tutsek. Neben den Genannten sind noch eine Anzahl beachtenswerter Federn im Roman- uud Nouellenfach thätig. Ludwig A bonyi schreibt Dorfgeschichten voll Feuer und inniger, poetischer Empfindung. Ludwig Tolnai, ebenso bissig wie fruchtbar, ahmt die englischen Humoristen nach, ist aber oft zu verletzend im Ton und zu nachlässig in der Form.
Ohne'diese Mängel hätte er eine führende Rolle in der ungarischen Litteratur spielen können. Albert Pälffi gilt für den Romancier der Konservativen.
Degre, Vortest, Kazär, Sziklai arbeiten sür den Massenbedarf.
Die französische Richtung führte schon vor nahezu 30 Jahren der frühuerstorbene, hochbegabte Stephan Toldy ein. 'Aber erst seit fünf Jahren ist die »naturalistische^ Richtung erstarkt, deren äußerste Linke I.Märtus führt, während Alexander Bröoy, Franz Herczegh, Kabos, Szomory u. a. bei der Nachahmung Zolas stehen geblieben sind. Siegmund v. Justh, ein Kavalier von altem Adel, ist der Vertreter des gesunden Naturlebens in seiner patriarchalischen Reinheit« ä. 1n< Tolstoi. Einen liebens-