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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Anarchismus

dem A. zu, während die Socialdemokratie mehr und mehr an Anhang verlor. Unter der geschickten Führung Joseph Peukerts trat zu Anfang der achtziger Jahre die Propaganda auch in mehrern blutigen Attentaten hervor, bei denen namentlich die später hingerichteten Anarchisten Kammerer und Stellmacher eine Rolle spielten. Durch energische Verwaltungsmaßnahmen aber und strenge Bestrafung der Schuldigen vermochte die Regierung die Bewegungen zu unterdrücken. Sie trat erst 1893 wieder hervor, wo eine anarchistische Druckerei und Bombenfabrik in Wien entdeckt und die Beteiligten Febr. 1891 zu schwerer Kerkerstrafe verurteilt wurden. In Frankreich fand der A. erst durch den Fürsten Peter Krapotkin Eingang, welcher als russ. Flüchtling seit Ende der siebziger Jahre in der "Fédération jurassienne" agitatorisch auftrat. Diese Bewegung wurde jedoch dadurch sehr bald gelähmt, daß Krapotkin mit einer großen Zahl seiner Genossen vom Lyoner Gericht wegen angeblicher Gründung und Teilnahme an einer internationalen Arbeiterassoziation zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt wurde. In Paris, wo sich zahlreiche anarchistische Gruppen gebildet hatten, entstand März 1892 infolge einer Reihe von zum Teil verheerenden Explosionen eine völlige Panik in der Bevölkerung. Auch nachdem der Haupturheber Ravachol verhaftet und hingerichtet, andere zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, setzten sich die Explosionen fort und kosteten einer Anzahl von Personen das Leben. Erst April 1893 gelang es, einigen der an den letzten Attentaten Beteiligten den Prozeß zu machen. Ein Bombenattentat, das sich diesmal gegen die Deputiertenkammer selbst richtete, war die Antwort. Am 9. Dez. 1893 schleuderte Vaillant ein Sprenggeschoß von der Zuhörergalerie mitten unter die Deputierten, tötete jedoch niemand. Vaillant wurde festgenommen und 5. Febr. 1891 hingerichtet. Trotzdem hörten auch 1894 die Attentate in Paris nicht auf. Am 12. Febr. warf Henry eine Bombe in das Terminushotel, und 4. April wurde ein Attentat im Restaurant Foyot gegenüber dem Senatsgebäude verübt. Ihren Gipfel erreichten diese anarchistischen Verbrechen jedoch in der Ermordung des Präsidenten Carnot, der 23. Juni 1894 in Lyon von dem Italiener Caserio erdolcht wurde. Seitdem haben die Attentate aufgehört. Auch in Belgien, wo namentlich Lüttich ein Herd anarchistischer Umtriebe war, fanden 1891 und 1892 unter der Leitung Moincaus Diebstähle von Sprengstoffen und Sprengungen statt. Obwohl im Juli 1892 in einem großen Prozeß von 16 Angeklagten neun zu verschiedenen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, war die Propaganda nicht vernichtet, die besonders von dem Russen Jagolkowski, der unter dem Namen Baron Ungern-Sternberg auftrat, betrieben wurde. Im April und Mai 1894 fanden weitere Dynamitanschläge in Lüttich statt, und 14. Jan. bis 9. Febr. 1895 wurden in einem neuen Prozeß mehrere Anarchisten zu lebenslänglicher, andere zu zeitweiliger Zwangsarbeit verurteilt. In Spanien war es schon während des Revolutionsjahres 1873 zu einer gewaltsamen Erhebung des A. gekommen. Die Anarchisten hatten bereits mehrere Städte im Süden des Landes in ihre Gewalt gebracht, als der Aufstand durch Castelar niedergeworfen wurde. Cartagena ergab sich erst nach längerer Belagerung 12. Jan. 1874. Auch später fehlte es nicht an anarchistischen Verschwörungen ("die schwarze Hand"), April 1892 wurde ein gegen die Deputiertenkammer gerichtetes Attentat noch rechtzeitig verhindert. Besonders in Catalonien breitete sich die Bewegung aus. In Barcelona verübte 24. Sept. 1893 der Anarchist Pallas ein Bombenattentat auf Martinez Campos, wobei mehrere Personen getötet und verwundet wurden. Um seine Hinrichtung zu rächen, wurden darauf 7. Nov. im dortigen Liceotheater zwei Bomben geworfen, durch die 22 Personen getötet und mehr als 50 verletzt wurden. Auch Anfang 1894 fanden noch verschiedene anarchistische Anschläge in andern Städten Spaniens statt. Von den ergriffenen Anarchisten wurden 21. Mai 1894 sechs hingerichtet. In Italien, wo der A. schon während der siebziger Jahre einige Lebenszeichen von sich gab, sind in neuerer Zeit auch vereinzelte anarchistische Anschläge vorgekommen. In England ist der A. zwar ohne Bedeutung geblieben, jedoch haben in London, besonders in dem Klub "Autonomie", die deutschen und österr. Anarchisten ihren Sammelpunkt gefunden, von dem aus sie ihre Druckschriften über den Kontinent zu verbreiten suchen.

Von außereuropäischen Ländern verdienen lediglich die Vereinigten Staaten von Amerika Erwähnung. Der dortige A. verdankt seine weite Verbreitung hauptsächlich der rührigen Agitation Mosts, der 1883 Europa verlassen hatte. Die frühern anarchistischen Bestrebungen wurden vom Volke um so weniger beachtet, als der bedeutendste ältere Vertreter des A., Benjamin R. Tucker, welcher seit 1880 in Boston die Lehren Proudhons vertrat, auf dem Boden der Theorie stehen blieb. Most predigte auf seinen verschiedenen Rundreisen durch das Land mit solchem Erfolge den unerbittlichen Kampf gegen die besitzenden Klassen, daß sich in den meisten größern Orten, namentlich in Chicago, anarchistische Gruppen zusammenfanden. Chicago wurde der Schauplatz blutiger Zusammenstöße mit der Polizei, bei denen es auf beiden Seiten zahlreiche Tote und Verwundete gab. Da griff die Regierung energisch ein. Die Rädelsführer wurden verhaftet und vier von ihnen 11. Nov. 1887 in Chicago hingerichtet. Damit war dem A. ein empfindlicher Schlag versetzt, und die Arbeiterkreise sagten sich zum großen Teil von ihm los.

Eine kritische Beurteilung des A. wird zweckmäßig an die verwandten Anschauungen der Socialdemokratie (s. d.) anknüpfen. Beide stimmen darin überein, daß sie die heutige Gesellschaftsordnung als die besitzenden Klassen einseitig begünstigend und zur Ausbeutung des Arbeiters führend bekämpfen. Namentlich gehen beide Richtungen in der Beurteilung des Grund- und Kapitaleigentums sowie der Wertlehre Hand in Hand. So hat die Proudhonsche Kritik der bestehenden Volkswirtschaft auch dem Socialismus die erfolgreichsten Waffen in die Hände geliefert. Dagegen weichen beide Parteien in den zu erstrebenden Zielen erheblich voneinander ab. Während die Socialdemokratie in dem genossenschaftlichen Zusammenschluß der Produzenten und der zwangsweisen Leitung der Gütererzeugung und -Verteilung ihr Zukunftsideal erblickt, welches insofern einen wesentlich kommunistischen Charakter trägt, macht sich im A. der extremste Individualismus geltend. Jeder einzelne soll völlig nach eigenem Belieben seine Bedürfnisse befriedigen. Auch in der Taktik gehen A. und Socialdemokratie auseinander. Während der A. die Attentate nicht