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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Arbeiterversicherung

Arbeiter; b. für die Unfallversicherung die über das ganze Reich sich erstreckenden Berufsgenossenschaften (s. d.); c. für die Invaliditäts- und Altersversicherung die Versicherungsanstalten, territorial gegliederte Verwaltungskörper. Neben diesen erscheinen als weitere Träger der A., insbesondere der Unfallversicherung, auch das Reich, die Bundesstaaten und die größern Gemeindeverbände (Provinzen, Kreise) für die von ihnen betriebenen wirtschaftlichen Unternehmungen und Verwaltungszweige. Auch sind einige große Eisenbahn-Pensionskassen und ähnliche Kasseneinrichtungen neben der Invaliditäts- und Altersversicherung zugelassen.

Der Kreis der Versicherungspflichtigen Personen ist für die einzelnen Zweige der A. verschieden gezogen. Die Kranken- und Unfallversicherung wurde zunächst nur für die Masse der industriellen Arbeiter eingeführt, später nach und nach auf Transportbetriebe, Land- und Forstwirtschaft, Banken und Reederei ausgedehnt; gewisse Arbeitergruppen, insbesondere die land- und forstwirtschaftlichen, können durch ortsstatutarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weitern Gemeindeverbandes dem Krankenversicherungszwang unterworfen werden. Die Invaliditäts- und Altersversicherung hingegen hat die gesamte männliche und weibliche Arbeiterbevölkerung einschließlich der Dienstboten ergriffen. Den Gegenstand der A. bilden: a. bei der Kranken- und Begräbnisversicherung die Gewährung freier ärztlicher Behandlung und Arznei, unter Umständen Verpflegung in einem Krankenhause, ferner von Krankengeld an die durch Erkrankung erwerbsunfähigen Mitglieder und an Wöchnerinnen, und von Sterbegeld an die Hinterbliebenen derselben; die Leistungen können auch auf Angehörige der Kassenmitglieder erstreckt werden. Die Unterstützungsdauer beträgt mindestens 13 Wochen; b. bei der Unfallversicherung die Fürsorge für die durch Betriebsunfälle Verletzten und deren Hinterbliebene, und zwar Ersatz der Kosten des Heilverfahrens von der 14. Woche an (bis dahin fallen dieselben der Krankenversicherung zur Last) und Gewährung einer Rente an den Verunglückten nach Maßgabe der durch den Unfall verursachten Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit, im Sterbefall Ersatz der Beerdigungskosten und Gewährung einer in Prozenten des Jahresarbeitsverdienstes des Verunglückten abgestuften Rente an die Witwe, die Waisen und unter Umständen die Angehörigen desselben; c. bei der Invaliditäts- und Altersversicherung Gewährung einer Invalidenrente bei dauernder Erwerbsunfähigkeit und einer Altersrente nach zurückgelegtem 70. Lebensjahre, über die Höhe der zu leistenden Beiträge und der zu gewährenden Renten s. Arbeitgeber, Invalidenrente, Altersrente.

Über die Ansprüche der Versicherten auf Unfall-, Invaliden- und Altersrente entscheiden besondere aus Arbeitgebern und -Nehmern gebildete Schiedsgerichte, gegen deren Urteil Rekurs an das Reichsversicherungsamt (s. d.) zugelassen ist. An der Verwaltung sind ebenfalls Arbeitgeber und Versicherte beteiligt, und zwar bei der Krankenversicherung in dem Verhältnis von 1:2, bei der Invaliditäts- und Altersversicherung in dem Verhältnis von 1:1, und auch bei der Unfallversicherung ist den Versicherten durch gewählte Vertreter der Arbeiter Mitwirkung an der Verwaltung eingeräumt.

Die Auszahlung der Renten erfolgt durch Vermittelung der Post. An der Durchführung und Beaufsichtigung der Versicherungseinrichtungen sind zahlreiche Verwaltungsbehörden beteiligt, insbesondere das Reichsversicherungsamt und die für einzelne Staaten (Bayern, Baden, Hessen u. s. w.) errichteten Landesversicherungsämter. Mit ersterm ist ein besonderes, namentlich der Invaliditäts- und Altersversicherung und statist. Zwecken gewidmetes Rechnungsbureau verbunden.

Dies ist in großen Zügen das Bild des heutigen Standes der A. im Deutschen Reich. Mit der Invaliditäts- und Altersversicherung hat sie ihren vorläufigen Abschluß gefunden. Die Witwen- und Waisenversicherung, für welche vielfach die Priorität wegen größerer Dringlichkeit des Bedürfnisses beansprucht wurde, ist allerdings nur zum Teil in den Unfallversicherungsgesetzen verwirklicht und steht im übrigen noch aus. Auch der Ausbau der Unfallversicherung ist noch nicht vollendet. Immerhin bildet die "socialpolitische" Gesetzgebung schon jetzt ein großartiges, einheitliches Werk von gewaltigem Umfange und einschneidenden Wirkungen, von denen viele Millionen Arbeiter und Arbeitgeber betroffen werden. Ihre Beurteilung ist natürlich je nach dem wirtschaftlichen und polit. Standpunkt, den man einnimmt, sehr verschieden. Teils begegnet sie principiellem Widerspruch, namentlich wird der Versicherungszwang als unzulässig, unnötig und unwirksam bekämpft; teils werden die Ziele gebilligt, aber die zu ihrer Erreichung eingeschlagenen Wege getadelt. Während ihr auf der einen Seite zum Vorwurf gemacht wird, daß sie durch teilweise Realisierung des socialistischen Programms der Socialdemokratie Vorschub leiste, bemängelt diese umgekehrt das den Arbeitern Gebotene als unzureichend. Für die A. läßt sich namentlich Folgendes anführen: Sie befriedigt, wo nicht das dringlichste so doch eines der wichtigsten Bedürfnisse des Arbeiters, die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz. Sie entlastet nicht nur die öffentliche und private Armenpflege, sondern setzt an die Stelle des mit einem Makel behafteten Almosens einen durch eigene Vorsorge erworbenen Rechtsanspruch. Allerdings ist diese Vorsorge eine erzwungene, aber sie hört darum nicht auf, Selbsthilfe zu sein, und entbehrt nicht der ethischen Bedeutung und erziehlichen Kraft. Und nur durch den Zwang ist es erfahrungsmäßig zu erreichen, daß diese Vorsorge allgemein, gleichmäßig, rationell stattfindet. Bliebe sie der freiwilligen Initiative überlassen, so würde sie nie von der gesamten Arbeiterbevölkerung geübt werden. Diejenigen, welche sie übten, wären den Übrigen gegenüber im Nachteil, insbesondere die Unternehmer, welche Zuschüsse gäben, würden unter ungünstigern Bedingungen produzieren als ihre Konkurrenten. Die Last der Invaliditäts- und Altersversicherung wird überhaupt nur erschwinglich, wenn die gesamten Arbeitermassen zusammengefaßt werden. Nur der allgemeine Versicherungszwang ermöglicht die stetige Kontinuität der A. und die volle Freizügigkeit unter den versicherten Arbeitern. Mit dem Grundsatz des Zwanges rechtfertigt sich auch seine Konsequenz, die Herstellung von Anstalten, welche die Durchführung der A. in der vom Gesetz beabsichtigten Weise garantieren, übrigens verbleibt der freien Vereinsthätigkeit auf dem Gebiet der A. immer noch ein weites Feld der Bethätigung. Die Zwangsversicherung beschränkt sich selbstredend nur auf das Allernotwendigste, die Renten erreichen z. B. nie den vollen Lohn der Versicherten. Es können also freie Organi-[folgende Seite]