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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Berufsgenossenschaft

zweckmäßige Kontrolle der einzelnen Betriebe beweist dies zur Genüge.

Der B. wird von ihren Gegnern insbesondere eine bureaukratische und kostspielige Verwaltung vorgeworfen. Beides ist unzutreffend. Die B. haben kraft Gesetzes Selbstverwaltung und üben dieselbe auch thatsächlich aus; daß dabei einzelne Obliegenheiten nicht von dem vollbesetzten Vorstande oder den sonstigen Organen, sondern nur von einzelnen, zum Teil auch von bezahlten Beamten erfüllt werden können, liegt in der Natur der Sache und ist um so weniger bedenklich, als seitens der Aufsichtsbehörde mit Nachdruck darauf hingewirkt wird, daß die Geschäftsführer, d. h. die bezahlten Beamten der B., nicht über ihre Befugnisse hinausgehen und jedenfalls in solchen Angelegenheiten, in welchen Verpflichtungen von finanzieller Tragweite seitens der B. übernommen werden müssen, oder in welchen die B. als solche nach außen hin, z. B. im Verkehr mit Behörden, zu vertreten sind, nicht in den Vordergrund geschoben werden. In letzter Zeit sind denn auch erhebliche Übergriffe der Geschäftsführer nicht mehr zur Kenntnis der Behörden gekommen. Was sodann die Höhe der Verwaltungskosten anlangt, so gestalten sich dieselben bei den einzelnen B. natürlich ganz verschiedenartig, je nachdem sie kostspielige oder weniger kostspielige Einrichtungen getroffen haben, und mehr oder weniger an Entschädigung für Zeitaufwand der verwaltenden Mitglieder, bez. an Beamtengehältern u. s. w. gewähren. Aber auch aus innern Gründen erreichen die Verwaltungskosten eine verschiedene Höhe. So wirtschaftet eine B. für wenige, aber intelligente Großindustrielle offenbar billiger als eine B. mit einer großen Zahl kleiner Betriebe, eine B. mit kleinem Bezirk in der Regel billiger als eine solche mit großem Bezirk und örtlich auseinander gezogenen Betrieben; endlich eine B., welche es mit der Unfallverhütung und der Kontrolle der Betriebe ernst nimmt, teurer als eine andere, welche in dieser Beziehung weniger thut. Im übrigen hat der Durchschnitt der laufenden Verwaltungskosten bei industriellen B., auf den Kopf der versicherten Personen berechnet, nur betragen 1887: 0,75 M., 1888: 0,74, 1889: 0,75, 1890: 0,75, 1891: 0,78, 1892: 0,83, 1893: 0,86 M., und dieser Durchschnitt erscheint thatsächlich nicht hoch. Keinesfalls darf man diese Verwaltungskosten mit denjenigen Ausgaben in Vergleich stellen, welche die B. zur Deckung der Unfallentschädigungen bisher jährlich aufgebracht haben; denn letztere werden nicht nach ihrem Kapitalwert, sondern nur in Höhe der Jahresbeiträge der thatsächlich zur Auszahlung gelangten Jahresrenten aufgebracht, müssen also wegen dieses Umlageverfahrens bis zur Erreichung des Beharrungszustandes jährlich wachsen, während die Verwaltungskosten sich gleich bleiben. Wollte man die Ausgaben für Unfalllasten mit denen für die Verwaltung in Vergleich stellen, so müßte man nicht die zur Auszahlung gelangten Jahresbeträge der erstern, sondern deren Kapitalwert in Ansatz bringen; dann ergiebt sich bei annäherndem Überschlag, daß die Verwaltungskosten nur etwa 8 Proz. der Gesamtbelastung ergeben haben. Dies ist überaus wenig, insbesondere wenn man bedenkt, daß die Privatgesellschaften, soweit bekannt, nicht unter 18, wohl aber bis zu 40 Proz. ihrer Gesamtausgaben für Verwaltungskosten aufzuwenden hatten. Die Gesamtzahl der Verletzten, für welche Entschädigungen festgestellt worden sind, betrug (1893) 206086, darunter 58724 Verletzte aus dem J. 1893. Die anzurechnenden Jahreslöhne betrugen 3366587329 M., die Summe der Entschädigungen (Renten u. s. w.) 34173471 M., wozu die Einlagen in den Reservefonds (1. Jan. 1893 bis 15. Aug. 1894: 12285879 M.), die Kosten der Unfalluntersuchungen, Unfallverhütung und der Schiedsgerichte (2318489 M.) sowie die der Verwaltung (5768408 M.) hinzukommen. Die effektiven Ausgaben betrugen 54548616, die effektiven Einnahmen 65974560 M.

Wie sehr die Bildung der B. dem Zuge der Deutschen nach korporativer Vereinigung entspricht, beweist u. a. der Umstand, daß die überwiegende Mehrheit (45) der gewerblichen B. sich wiederum zu einem Verband zusammengeschlossen hat, der, in einer am 14. Mai 1886 zu Berlin abgehaltenen Versammlung von Berufsgenossenschaftsvertretern geplant, zu Frankfurt a. M. am 27. Juni 1887 konstituiert wurde. Der Verband der deutschen B. hat den Zweck, eine Vereinigung für den Meinungsaustausch und den persönlichen Verkehr der B. zu bilden, die gemeinsamen Angelegenheiten der B. zu vertreten und die weitere Entwicklung der berufsgenossenschaftlichen Gliederung zu fördern. Seine Satzungen sehen als Vertreter des Verbands den Berufsgenossenschaftstag und den geschäftsführenden Ausschuß vor. Der Ausschuß wird aus mehrern B. gebildet. Derselbe wählt seinen Vorsitzenden, der wiederum dem Berufsgenossenschaftstag präsidiert, und hält Sitzungen nach Bedarf ab. Jeder Berufsgenossenschaftstag bestimmt den Ort der nächstjährigen Zusammenkunft. Bis jetzt fanden Berufsgenossenschaftstage in Frankfurt a. M., Köln, Berlin, Straßburg, München, Hamburg, Stuttgart und Dresden statt. Der Verband hat das Verdienst, ohne jurist. Persönlichkeit zu besitzen, einsichtsvoll seine Aufgaben zu erfüllen. Dem Reichsversicherungsamt steht er als ein mit ihm in den besten Beziehungen stehendes beratendes und vermittelndes Organ zur Seite. Von seinen Bestrebungen sind insbesondere die auf Errichtung von Unfallkranken- und Rekonvalescentenhäusern, von Pensionskassen für die Beamten der B., Führung einer Lohnstatistik, Erlaß von Normal-Unfallverhütungsvorschriften für gleichartige Gefahren u. s. w., erste Hilfeleistung bei Unfällen durch Schaffung sog. Unfallstationen (s. d.) u. s. w. gerichteten hervorzuheben. Der Mitte des J. 1894 veröffentlichte Entwurf eines Gesetzes betreffend die Erweiterung der Unfallversicherung will für den größten Teil derjenigen Betriebe, auf welche der Versicherungszwang erstreckt werden soll (Handwerk, Kleingewerbe, Fischerei, Seeschiffahrt auf kleinen Fahrzeugen, Handelsgewerbe u. s. w.), eine neue Organisationsform, nämlich bezirksweise zu errichtende Unfallversicherungsgenossenschaften einführen, welche ohne Scheidung der Berufszweige sämtliche in dem Bezirk vertretenen Betriebe umfassen sollen und deren Verwaltung den Kommunalverbänden obliegen soll. Der Entwurf verspricht sich von diesen Genossenschaften eine erhebliche Herabminderung der Verwaltungskosten und eine schnellere Erledigung der Geschäfte. Nur für einzelne besonders leistungsfähige Gruppen der obengedachten Betriebe soll, wenn dies in den Wünschen der Beteiligten liegt, die berufsgenossenschaftliche Organisation nicht ausgeschlossen sein.

In Österreich erfolgt die Unfallversicherung im wesentlichen durch territoriale Versicherungsanstalten; neben diesen ist die Bildung von B. nur