527
Brief
Frühzeitig bildete sich die Briefschreibung (Epistolographie) zu einer eigenen litterar. Gattung aus, sei es nun, daß die B. von ihren Verfassern sofort mit der Absicht der Veröffentlichung geschrieben, sei es, daß sie erst von andern gesammelt wurden. Ihr eigentümlicher Wert liegt darin, daß B. einen besonders tiefen und richtigen Einblick in das Gefühls- und Geistesleben des Schreibenden ermöglichen, wertvolle Materialien zur Kenntnis der Geschichte und Sitte ihrer Zeit liefern und den unbefangenen Konversationsstil kennen lehren. Aus der klassischen Zeit des griechischen Altertums sind zwar dem Namen nach eine Menge von B. bedeutender Männer (Heraklit, Pythagoras, Themistokles, Plato, Sokrates, Isokrates, Aristoteles, Demosthenes) erhalten, aber sie sind, wenn auch aus dem Altertum stammend, wohl samt und sonders unecht. Echt sind dagegen, aus späterer Zeit, die B. des Kaisers Julianus Apostata, des Libanius, des Bischofs Synesius, echt ferner, wenn auch der Inhalt reine Fiktion und die Briefform eine bloße Geschmackssache der Verfasser ist, die des Alciphron, des Aristänetus und des Theophylaktus von Simocatta. In Rom entwickelte sich die Epistolographie, durch den ältern Cato eigentlich erst zu einer selbständigen Stellung erhoben, namentlich in polit. Richtung (Cäsar, Cicero). Angesehene Männer Roms ließen ihre B. in Abschriften verbreiten, um sich zahlreiche Anhänger für polit. Zwecke zu erwerben. Einen hohen Grad von feingebildetem Ton (Urbanität) und einen bei aller Natürlichkeit sorgfältigen Stil zeigen Ciceros B. Nach dem Fall der röm. Republik diente die Briefform vielfach der Erörterung allgemeiner Probleme in Leben und Wissenschaft. Hierher gehören die B. des Philosophen Seneca, Plinius des Jüngern u. a., von spätern die des Symmachus, Ausonius, Eidonius, Cassiodor. Christliche Schriftsteller erörterten Glaubenslehren (Hieronymus, Augustin, Innocentius, Zosimus, Bonifacius, Cölestin, Sixtus, Leo I., Gregor I.), Alkuin und Lupus zu Karls d. Gr. Zeit wissenschaftliche Gegenstände in B. Auch poet. Episteln (s. d.) waren beliebt (Paulinus, Fortunatus). In der folgenden Blütezeit der klösterlichen Gelehrsamkeit ward auch die Briefschreibung viel gepflegt und zur Kunst erhoben. Eine berühmte lat. Briefsammlung des 13. Jahrh. war die des Kanzlers Friedrichs II., Petrus de Vinea (s. d.). Mit der Wiederbelebung der Wissenschaften durch den Humanismus nahm die Behandlung wissenschaftlicher Fragen in Briefform neuen Aufschwung. Anfangs schrieb man noch lateinisch (Vives, J. Lipsius, Reuchlin, Erasmus, Celtis, Mutian, Morhof u. a.). In absichtlich barbarischem Latein sind die satir. Epistolae obscurorum vivorum" (s. d.) abgefaßt.
In der Muttersprache schrieben zuerst die Italiener B. von litterar. Wert, namentlich Annibale Caro, Mauritius, Dolce, Pietro Aretino, Bernardo Tasso, denen unter den Neuern besonders Gasp. Gozzi, Algarotti, Metastasio und Foscolo würdig zur Seite traten. Vortreffliches leisteten vor allen die Franzosen im eleganten und leichten Briefstil, so Pascal, Frau von Sévigné, Racine, Rousseau, Montesquieu ("Lettres persanes"), P. L. Courier, Merimeé ("Lettres à une inconnue") und Madame de Rémusat. Unter der englischen Brieflitteratur ragen hervor die B. von Swift, Pope, Hughes, William Temple, Addison, Locke, Bolingbroke, Lord Chesterfield, Shaftesbury, der Lady Montague, Richardson, Sterne und Moore; aus polit. Gründen machten großes Aufsehen die sog. Juniusbriefe. Deutschland kannte im 13. und 14. Jahrh. nur gereimte B. in deutscher Sprache; die einzige erwähnenswerte Ausnahme bildet der Briefwechsel der Mystiker (Heinr. von Nördlingen, Margarete Ebner). Das deutsche Wort im Prosabrief tritt zuerst als Protest gegen das Latein der Fürstenhöfe im geschäftlichen Wechselverkehr der Städte auf, die ihre Handelsbriefe, gegenseitigen Verträge u. s. w. stets deutsch abfaßten. Im 15. und 16. Jahrh. nimmt der deutsche B. großen Aufschwung (Luther), aber zumeist der Privat- und Geschäftsbrief ohne litterar. Anspruch; die Gelehrten bevorzugen noch bis ins 17. Jahrh. das Latein. Die Freien Reichsstädte senden seit der Reformation auch dem Kaiser und den Fürsten keine lateinischen B. mehr, ja, die Mächtigern verlangen von erstern geradezu "das deutsche Wort". Mit den Wappenzeichen verschiedener niederdeutscher Städte geschmückt sind die mannigfachen Briefbogen, die Nikolaus Glockendon in der von ihm um 1524 gemalten Bibel (Bibliothek Wolfenbüttel) nach zeitgenössischen Originalen dargestellt hat. Das Abzeichen von Basel trägt an Hut und Kleid der Bote, der in einem Holzschnitt zu S. Brant die närrische Botschaft in Gestalt eines versiegelten B. bringt. Das Wachstum des Exporthandels und die Zunahme der Geschäftsreisen bilden den Briefstil weiter; zugleich wird das Briefwechseln unter den Gebildeten immer allgemeiner. Freilich ringen die meisten noch arg mit dem Ausdruck; auch hinderte die Mode des franz. Briefschreibens lange die Entwicklung eines gewandten deutschen Briefstils. Erst um 1700 begann auch in Deutschland eine wirkliche nationale Brieflitteratur. Die Zopfzeit mit ihrem unnatürlichen und namentlich durch die schwerfälligen Titulaturen steifen Briefstil, dem sich freilich gesunde Naturen, wie die Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, glücklich entzogen, wurde zuerst von Gottscheds Gattin, dann von Gellert bekämpft. Seit der Mitte des 18. Jahrh. wird mit B. vielfach ein sentimentaler Kultus getrieben. Wir besitzen ausgezeichnete B. von Lessing, Winckelmann, Klopstock, Wieland, Weiße, Jacobi, Garve, Abbt, Glenn, Rabener, Bürger, Kant, Lichtenberg, Johs. von Müller, Goethe, Schiller, G. Förster, K. J. Weber, Jean Paul, Alexander und Wilh. von Humboldt, F. von Raumer, Rahel, Bettina, den Schlegel, den Brüdern Grimm, Schleiermacher, Stifter, R. Wagner, Bismarck u. a. Auch Gelehrte behandelten wiederum wissenschaftliche Gegenstände in B., so lieferten Ruhnken, Wyttenbach, Sauppe ("Epistola critica"), J. Grimm ("Sendschreiben an K. Lachmann, über Reinhart Fuchs"), H. von Friesen ("Shakspeare-Studien") u. a. in Briefform Beiträge zur litterar. Kritik, Liebig "chemische", Vogt "physiologische" und "zoologische", Lessing, Raumer und Böckh "antiquarische", Erdmann "psychologische" B. Die vielen Briefsammlungen aus dem 18. Jahrh. dienen ähnlich wie die Memoiren (s. d.) des 17. dem Forscher auf den Gebieten der Litteratur- und der Kulturgeschichte, namentlich bei monogr. Betrachtungen, oft als erste und zuverlässigste Quelle. Als Sammlungen obgenannter Art, die für die Litteraturgeschichte wichtig sind, seien z. B. genannt: die B. von und an Goethe und Schiller, die G. A. Bürgers (hg. von Strodtmann), die an Tieck (hg. von Holtei), namentlich auch "Aus klassischer Zeit. Wieland und Reinhold. Beiträge zur Geschichte des deutschen Geisteslebens im 18. Jahrh., hg. von R. Keil" (2. Aufl., Lpz. 1890).