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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Byron (George Noel Gordon, Lord)

des Individuums aufgedrückt, das sich vom alten Zustande der Dinge losreißt, ohne zur Gestaltung eines neuen Ideals zu gelangen. Er steht damit im Banne derselben Bewegung, die ein halbes Jahrhundert früher die westeurop. Bildungswelt aufgerüttelt hatte (vgl. O. Schmidt, Rousseau und B., Oppeln 1890). Gewaltig im lyrischen Ausdruck des Lebensüberdrusses und des Menschenhasses, der glühenden Begeisterung für die Herrlichkeit der Vorwelt und eines gigantischen Trotzes auf eigene Kraft, war B. in der Schilderung von Charakteren weniger glücklich. Seine Helden sind fast alle nach einem Schnitt. Mit der Gesellschaft zerfallen, bewegen sie sich meist auf der Grenze von Sitte und Willkür. Er stellt sie vorwiegend durch Beschreibung und Reflexion dar, läßt sie zu wenig handeln und mischt seine Gefühle und seinen Glauben in ihr Leben und handeln wie in ihre Reden. Wie bei ihm selbst wechselt bei ihnen Fausts und Don Juans Wesen ab. Auch B.s Meisterwerk, das unvollendete großartige epische Gedicht «Don Juan» (vgl. Colton, The tendencies of Don Juan, 1826) macht hierin keine Ausnahme. Andererseits entfaltet sich B.s reichbegabte Natur in keinem andern Werk in so glänzender Mannigfaltigkeit, keins offenbart in gleicher Weise seine erstaunliche Leichtigkeit des Schaffens und Sprachgewalt. «Don Juan» ist das Epos der modernen Gesellschaft, zugleich das Werk, das in lyrischem Erguß wie in dramatisch lebendiger Darstellung von Welt und Menschen den vollständigsten Eindruck von B.s Persönlichkeit hinterläßt (vgl. Hel. Druskowitz, B.s Don Juan, 1879). Seine Heldinnen sind im ganzen noch schwächer, haltloser und, trotz breiter romantischer Schilderungen, einförmiger als seine Helden. B.s Stil ist glänzend, obschon ihm mitunter Malerei und Deklamation mehr Dienste leisten, als die echte Poesie erheischt. Oft aber drückt er in schlagender Kürze Gedanken und Gefühle aus. Manche seiner Lieder gehören zu den schwungvollsten und innigsten der engl. Poesie. Seine Dramen (vgl. von Westenholz, Über B.s histor. Dramen, Stuttg. 1890) sind allzu reichlich mit Beschreibungen und Betrachtungen ausgeschmückt, weshalb sie sich, obgleich gelegentlich aufgeführt, nie auf den Bühnen behaupteten.

Eine höchst wertvolle Bereicherung der Kenntnis von B.s Charakter bietet der von seinem Freunde Th. Moore in die Darstellung von B.s Leben verwobene Briefwechsel desselben («Letters and journals of Lord B. with notices of his life», 2 Bde., Lond. 1830; neueste Ausg. 1875; deutsch, 4 Bde., Braunschw. 1831‒33), der ihn als gewandten, geistreichen Prosaisten zeigt. B.s «Poetical works» erschienen in zahlreichen Ausgaben (zuerst 6 Bde., Lond. 1815; Ausg. von Murray 1828; vollständiger als «Life and Works of B.», 1832‒35; zuletzt in Routledges «Popular Library», 1890, und bei Griffith Farran u. Co., Lond. 1891) und wurden in fast alle lebenden Sprachen übersetzt, deutsch von Böttger (Lpz. 1840; in 8 Bdn., 6. Aufl., ebd. 1864) und am vorzüglichsten von O. Gildemeister (6 Bde., Berl. 1864; 4. Aufl. 1888); die «Erzählenden Dichtungen» übersetzte Strodtmann (Hildburgh. 1862), die «Dramen und epischen Dichtungen» Schröter (4 Bde., Stuttg. 1885‒86). Vgl. die bibliogr. Übersicht Flaischlens, B. in Deutschland im «Centralblatt für Bibliothekswesen», Ⅶ. Die Memoiren B.s wurden durch den Erben dieser Papiere, Moore, aus Rücksicht auf die Familie vernichtet. Aus damaliger Zeit sind zu erwähnen: Lady Blessington, Conversations with Lord B. (1832 u. 1834); Galt, Life of Lord B. (1831); von den vielen neuern biogr. Beiträgen: Eberty, Lord B., eine Biographie (2. Aufl., 2 Bde., Lpz. 1879); Elze, Lord B. (3. Aufl., Berl. 1886; ins Englische übers. 1872); Gräfin Guiccioli, Lord B. jugé par les témoins de sa vie (2 Bde., Par. 1868); Engel, Lord B. Eine Autobiographie nach Tagebüchern und Briefen (3. Aufl., Mind. 1884); Gottschall, Lord B., im «Neuen Plutarch», Bd. 4 (Lpz. 1876); J. C. Jeaffreson, The real Lord B. (Lond. 1883), der den Verdächtigungen gegenüber mit Erfolg eine Ehrenrettung auf Grund zuverlässigen und teilweise neuen Materials anstrebt; Weddigen, Lord B.s Einfluß auf die europ. Litteraturen der Neuzeit (1884); J. Schmidt, B. im Lichte unserer Zeit (Hamb. 1888); R. B. W. Noel, Life of Lord B. (ebd. 1890); Durdik, über B.s Poesie und Charakter (czechisch, 2. Aufl., Prag 1890); Dallois, Études morales et littéraires à propos de Lord B. (Par. 1891).

Seine Gattin, Anna Isabella Milbanke, Lady B., einzige Tochter und Erbin Sir Ralph Milbankes und Lady Judith Noels, geb. 17. Mai 1792 in London, ward durch ihre Mutter, Schwester Thomas Noels, Viscounts Wentworth, Erbin von Wentworth. Sie besaß vielseitige, sorgfältig entwickelte Talente und eine ungewöhnliche Entschiedenheit und war äußerlich graziös und angenehm. Mit Lord B. wurde sie während der Saison von 1813 bekannt bei ihrer Tante Lady Melbourne, seiner Gönnerin, die seine Ehe mit ihr wünschte. Ihr einfach edles Wesen schildert Lord B. später in einem der anziehendsten Frauencharaktere des «Don Juan», Aurora Raby. Auch sie faßte eine tiefe Neigung für ihn, wies jedoch, an der Möglichkeit eines Ausgleichs der großen Verschiedenheiten ihrer Naturen zweifelnd, seinen Heiratsantrag Nov. 1813 zurück. Einen zweiten, nach einem längern Briefwechsel im Sept. 1814 gestellten nahm sie an und die Vermählung wurde 2. Jan. 1815 vollzogen. Das Eheband widerstrebte seinem unsteten Sinne, und eine Frau von vorwiegend praktischem Wesen, strengen Grundsätzen und Selbstbewußtsein wie Lady B. konnte trotz der reinsten Absichten das leidenschaftliche, cholerisch-melancholische Temperament eines Dichters vom Schlage B.s nicht verstehen oder gar leiten. Dazu entsprangen seiner verschwenderischen Lebensweise häusliche Verlegenheiten; so lag eine stürmische Zeit hinter dem Paare, als (10. Dez. 1815) die Tochter Augusta Ada geboren wurde. Am 15. Jan. 1816 verließ Lady B. London und begab sich mit ihrer Tochter nach Kirkby-Mallory in Leicestershire, dem Landsitze ihres Vaters. Sie schrieb noch mehrere heitere, freundliche Briefe an Lord B.; ihre Mutter lud sogar B. ein, sodaß dieser höchst überrascht war, als ihm kurz darauf (2. Febr.) sein Schwiegervater den Entschluß der Lady B. ankündete, sich auf immer von ihm zu trennen. Diese Kunde rief das größte Aufsehen hervor. Man nahm fast allgemein für Lady B. Partei, und ein plötzlicher Sturm des öffentlichen Unwillens trieb Lord B. in die Fremde. Als jedoch Moores Biographie Lord B.s erschien, war schon ein entschiedener Rückschlag eingetreten. Sein heldenhafter Tod in Griechenland hatte diesen verstärkt; Moore änderte das Urteil zu seinen Gunsten. Lady B. brachte den Rest ihres langen Lebens mit Werken der Wohlthätigkeit,