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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

ments unter die Ungelehrten getragen; dieser, ein ernst strebender Dichter, der die Kunst des mittelhochdeutschen Versbaues auf die höchste Stufe überfeiner Vervollkommnung steigerte, lieferte wahre Musterstücke der Reimnovelle, die mehr und mehr das Erbe des Reimromans antrat. Zahllose ernste und spaßige, moralische und schlüpfrige Geschichtchen, Anekdoten, Schwänke u. s. w. wurden in glatten Versen und flotter Erzählung unter dem stoffhungrigen Publikum verbreitet, so manche schon darunter, denen später Boccaccio einen Platz in der Weltlitteratur verschaffte. Ein besonders fruchtbarer Dichter dieser kleinen Gattung war der in Österreich vagierende Stricker, der durch seine "Bîspel", Gleichnisse und Tierfabeln mit lehrhafter Tendenz, schon der berühmten Fabelsammlung des Berner Mönches Ulrich Boner, dem "Edelstein", voranging. Die Bayern und Österreicher übertreffen auch in dieser Zeit die andern Landschaften durch lebensvollen gesunden Realismus: keine einzige der zahllosen mittelhochdeutschen Novellen kann sich an kulturhistor. und poet. Wert mit der entzückenden bayr. Dorfgeschichte "Meier Helmbrecht" von Wernher dem Gärtner messen. In dem unbekannten Verfasser der Seifried Helbling beigelegten Spruchgedichte erstand der Heimat Heinrichs von Melk wieder ein bedeutender Satiriker, und die Reimchronik des Steiermärkers Ottokar zeichnet sich vor der Überfülle damaliger Reimchroniken durch farbenreiches, lebenswahres Detail glänzend aus. Dem Heldengesange, der wieder unmodern geworden war, gedieh diese realistische Richtung freilich nicht zum Frommen: die Thaten Biterolfs und Dietleibs, Ortnits und Wolfdietrichs u. a., vor allem die unerschöpflichen Riesen-, Zwerg- und Heldenkämpfe Dietrichs von Bern werden aus dem mächtigen Pathos des alten Heldengesangs zu einem unwürdigen Bänkelsängerton erniedrigt, der mit dem landläufigen Ritterroman in der Gleichgültigkeit gegen seelische Probleme, der Vorliebe für das Abenteuerliche wetteiferte und die ehrfurchtgebietenden Heldengestalten oft genug zu trivialster Spaßhaftigkeit herabzog.

Niederdeutschland hatte seit Heinrich von Veldeke kaum teil genommen an der Entwicklung deutscher Poesie. Wer dort dichtete, mußte die angestammte Mundart mindestens in den mitteldeutschen Dialekt umwandeln, um über den engsten Kreis der Heimat hinaus bekannt zu werden; so schon Eilhart von Oberge, so später der sächs. Spruchdichter Raumsland, der Magdeburger Patricier Bruno von Schönebek, der Dichter eines Hohen Liedes (1276), so selbst der Lyriker Fürst Wizlav von Rügen. Um so maßgebender wurde der niederdeutsche Norden für die Geschichte der deutschen Prosa. Hier verfaßte schon 1230 der Schöffe Eike von Repkow das erste Rechtsbuch, den "Sachsenspiegel" (s. d.), der durch seinen ungeheuern Erfolg für die Geschichte des deutschen Rechts, ja für die innere staatliche Entwicklung Deutschlands die überraschendste Bedeutung gewann; hier wurde etwa gleichzeitig das erste prosaische Geschichtswerk, die sogenannte sächs. Weltchronik, niederdeutsch verfaßt. Langsamer folgte der Süden, der gewohnt war, alles gehobene Deutsch in Reime zu kleiden. Aber auch er besaß schon im 13. Jahrh. eine reiche Predigtlitteratur, unter der die unwiderstehlich hinreißenden Volkspredigten des genialen Franziskaners Berthold von Regensburg (gest. 1272) obenan stehen. Im Gegensatz zu dieser demagogischen Beredsamkeit, die damals zuerst als eine Macht erkannt wurde, trägt ein aristokratisches Gepräge die edle, innerliche Prosa des Dominikaners und Mystikers Meister Eckhart (gest. 1327); auch andere Mystiker schrieben deutsch; in Susos Schriften lebte die schwärmerische Sprache des Minnesangs, aufs Göttliche angewendet, noch einmal auf. Diese oberrhein. Mystik zieht den Rhein abwärts; ihr dankt das noch heute viel gelesene Buch des Thomas a Kempis "Von der Nachfolge Christi" die Entstehung (1380).

IV. Frühneuhochdeutsche Periode (vom Anfang des 14. bis in den Anfang des 17. Jahrh.). Mit den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrh. ist die adlige Dichtung völlig überwunden; die tirolischen Spätlinge der Minnelyrik, der steife lehrhafte Hugo von Montfort (gest. 1423) und der fratzenhaft abenteuerliche Oswald von Wolkenstein (gest. 1445) sind Ausnahmen, und von dem alten Minnesang sind doch auch sie weit entfernt. Es giebt keine Kunstpoesie mehr, die, auf einen höchsten Stand beschränkt, sich von der Volksdichtung sondert; die höfische temperierte Sprache versinkt in den nur durch Schreibertraditionen modifizierten Mundarten; diese machen sich in den Dichtungen jetzt kaum minder fühlbar, als in den Urkunden, die seit 1300 immer häufiger deutsch abgefaßt werden. Das Volk dominiert um so ausschließlicher, als der weltliche Gelehrtenstand, die Vorstufe der heutigen "Gebildeten", eben erst mit dem Aufkommen der Universitäten sich heranzubilden begann. Harte materielle Interessen überwiegen; das ideale Streben der Zeit gilt vorwiegend der kirchlichen Reformation, wie denn das Konzil von Konstanz, die Hussitenkämpfe eine große Menge satir. Verse hervorriefen (z. B. "Des Teufels Netz"). Die Dichtung verroht unaufhaltsam. Der stets aristokratische Sinn für Form geht dieser Zeit demokratischen Ringens der Städte und Bauern verloren. Das Publikum verlangt nur hungrig und wenig wählerisch nach derbem Unterhaltungsstoff. Selbst die bürgerliche Lehrdichtung, noch mehr die Ausläufer der Minnepoesie bedürfen mindestens einer stofflichen Einkleidung: von den Schachgedichten Heinrichs von Beringen, Konrads von Ammenhausen, den minniglichen Jagdgedichten des verdienstlichen Ritters Hadamar von Laber (um 1340) u. a. bis zu Brants "Narrenschiff" und Murners "Gäuchmatt" kann kein Lehrgedicht des allegorischen Aufputzes entbehren. Die kurze Novelle, der zotige Schwank sind die Lieblinge des Publikums, selbst die Predigt muß sich mit Geschichten (Predigtmärlein) und derben Allegorien (Geiler von Kaisersberg) beladen, und Novellensammlungen, wie die "Gesta Romanorum", das "Buch von den 7 Meistern", das Hans der Büheler in seinem "Diocletian" (1412) reimte, werden in Versen und in Prosa die gesuchteste Lektüre. Von den alten Ritterfesten und -Tugenden spricht zumeist die ganz äußerliche Wappen- und Heroldsdichtung, deren Hauptvertreter Suchenwirt ist und die schnell zur Pritschmeisterei herabsinkt. Der Heldengesang, der in "Heldenbüchern" gesammelt wurde, verfällt immer mehr in rohe Bänkelsängerei, soweit er nicht das Alte einfach nachspricht. An die oft geistreichen und bedeutenden Sprüche der wandernden Berufsdichter des 13. Jahrh. erinnert höchstens noch der vortreffliche, Frauenlob an Klarheit der Gedanken überlegene, an Reichtum vergleichbare Muskatblüt (um 1430); sonst ist die Spruchpoesie fast durchweg zum öden Meistergesang (s. d.) verknöchert. Seit der Schmied Regenbogen