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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

1679, und Lohenstein, gest. 1683) sein geschmackverwüstendes Unwesen treibt: lüsternste Erotik in der forciertesten und unnatürlichsten Farbenpracht, vorgetragen von innerlich kühlen Poeten, gequälte und überladene Bilder, Ausgeburten einer unfruchtbaren, aber überreizten Phantasie. Da es sich nur um Kunst, nirgends um Wahrheit handelt, giebt es im Steigern und Überbieten der Unnatur keine Grenzen: der "Schwulst" repräsentiert wohl die ärgste Geschmacksverirrung, die unsere Litteratur je erfahren. Er bleibt nicht ohne Einfluß auf das volkstümliche Gesellschaftslied, das schon im 16. Jahrh. mit seinen künstlichern Melodien das alte Volkslied zurückdrängte und ihm im 17. Jahrh. wesentlich nur das Feld der (meist unerfreulichen) histor. Lieder und fliegenden Blätter überließ. Während die Sachsen Finckelthaus, Schirmer und Schoch in ihren Gesellschaftsliedern sich derbe Nüchternheit zu bewahren wissen, nähern sich die talentvollern, Filidor der Dorferer und der in Hamburg dichtende "Celadon von der Donau" (Grefflinger), immerhin sehr deutlich der modischen Kunstrichtung. Was Wunder, da doch selbst die geistliche Poesie ihren Einwirkungen sich nicht ganz entzieht. Das gilt nicht nur von den Katholiken, die an Balde einen hervorragenden schwungvollen lat. Hymniker haben und deren ausgezeichnete deutsche Lyriker, der treffliche Jesuit Spee (1591-1635) und der Konvertit Scheffler (Angelus Silesius), Töne des Hohenliedes und der mittelalterlichen Mystik mit dem erotischen Idyllenton der modernen Schäfermanier virtuos verquicken. Es gilt das auch von den Protestanten. Gewiß war es ein Fortschritt über die öde unlyrische Dogmatik, die im Kirchenliede des spätern 16. Jahrh. herrschte, als Phil. Nicolai, der Dichter des Liedes "Wie schön leuchtet der Morgenstern", zuerst Klänge von fast minniglichem Gefühl einschmuggelte; und in der heitern Gemütswärme Paul Gerhardts (1607-76), der die moderne Vers- und Sprachtechnik innehat, von der latein. Hymne lernt und das Seelenleben des Individuums zu tiefsinnigem Ausdruck bringt, gedeiht das prot. Kirchenlied zur höchsten Blüte. Aber wenn es ihm auch an glücklichen Genossen, wie Rist, dem Gründer des Elbschwanenordens, Neander, Oleanus, Arnold, nicht fehlt, so erwies sich der pietistische Gefühlsüberschwang der Zeit doch als gefährlicher Nährboden: individualistische Ausschreitungen, wie Kuhlmanns "Kühlpsalter" (1684), wirken auf uns noch nicht so abstoßend, wie der ausgelassene erotische Ton, in den die fromme Lyrik des Grafen Zinzendorf u. a. herrnhutischer Sänger sich verirrt. Noch in Bachs unvergleichlichen Motetten und Kantaten zeigt die musikalische Verschiedenheit der weltlich prunkvollen Arien und der tiefinnigen, einfach frommen Chöre die Schwächen und Stärken der Epoche vereinigt.

Die wachsende Bedeutung der Musik, die dem geistlichen und weltlichen Liede ohne Frage zum Vorteil gereichte, schädigte dagegen in beklagenswerter Weise die Entwicklung des Dramas. Die aus Italien importierte Oper mit ihrer glänzenden Ausstattung und ihren sinnerregenden Balletten gewinnt nicht nur die Gunst der Höfe, die gern über Prunk und Pracht die schwere Not der Zeit vergaßen, sondern sie setzt sich auch in reichern Städten fest, wie sie denn seit 1678 in Hamburg mit unerhörtem Luxus gepflegt wird. Nachdem Opitz 1627 mit seiner von Schütz komponierten "Daphne" den Reigen der deutschen Opern eröffnet hat, entstehen dann weiter unzählige allegorische Fest- und Schäferspiele, die sich dem Stil der Opern wenigstens nähern und uns höchstens in den dialektischen Bauernscenen ihrer komischen Zwischenakte erfreuliche Momente bieten (so Rists Friedensstücke); auch das burleske Singspiel kommt auf, gerät aber bald in den Schmutz, der uns aus den Produkten Christ. Reuters entgegenstarrt. Das aufblühende Drama des 16. Jahrh. verkommt dagegen zu den Haupt- und Staatsaktionen der Wandertruppen, bei denen der Hanswurst die Hauptrolle spielt und die Improvisation jede strenge Kunstform sprengt; so verdarb manch köstliches Material: kannten diese Leute doch Dramen von Shakespeare und Molière. Der einzige litterarisch nennenswerte Dramatiker der Zeit ist Andreas Gryphius (1616-64). Er pflegt voll Ernst und Kraft das Renaissancedrama nach des Holländers Vondel Muster mit seinem steifen Pathos und seiner idealen Ferne: auf ihm fußen die widerlichen, grell naturalistischen Blut- und Greuelscenen Lohensteins. Gryphius' einsame Größe zeigt sich aber viel deutlicher in seinen, zum Teil ausgezeichneten Lustspielen; die lebensvolle Heiterkeit seiner "Geliebten Dornrose" hat in dem ganzen Jahrhundert nicht ihresgleichen. Die Komödien Schochs, Henricis u. a. wird man ihr nicht zur Seite stellen. Aber auch die Satire nicht, die wohl die Lebensbeobachtung, nicht aber die tendenzlose Lebensfreude mit ihr teilt.

Die Satire, schon im 16. Jahrh. reich ausgebildet, findet an den alamodischen Narrheiten (s. À la mode) des 17. Jahrh. einen besonders ergiebigen Stoff, und sie hat ihn ausgenutzt. Friedr. von Logau geht der Sittenverderbnis, den modernen Thorheiten in allzu zahlreichen, aber manchmal vortrefflichen, kurzen Sinngedichten zu Leibe; der Hamburger Prediger Schuppius geißelt sie von der Kanzel herab, derb und realistisch, doch ohne die Witzeleien und den gehäuften Anekdotenkram, mit dem bald der Wiener Hofprediger Abraham a Sta. Clara (gest. 1709) seine berühmten Kapuzinaden schmückt; der Rostocker Professor Lauremberg singt in seinen schalkhaft volkstümlichen niederdeutschen "Scherzgedichten" (1652) das Lob der guten alten Zeit im Gegensatz zu aller modernen Narretei; Moscherosch ahmt die Sueños des Spaniers Quevedo in seinen "Wunderlichen Gesichten Philanders von Sittewald" (1642) nach, unter denen die Vision "Alamode-Kehraus" seine patriotische Tendenz am besten illustriert. Wirksamer als alle diese gewollten Satiren schildern die Verkommenheit und das Elend der Zeit die genialen simplicianischen Schriften (seit 1669) Christophs von Grimmelshausen, dem es wunderbar gelungen ist, die Schrecken und die entsittlichenden Wirkungen des großen Krieges in überzeugend lebenswahren Bildern festzuhalten; an den span. Schelmenroman anknüpfend, hat er die Form doch mit ureigenstem Inhalt erfüllt und in schonungs-, aber tendenzlosem Wirklichkeitssinn mit Humor und Anschaulichkeit Gestalten und Scenen geschaffen, denen die Zeit Ebenbürtiges nicht zur Seite zu stellen hat, am wenigsten auf dem Gebiete des Romans. Dieser hatte, als der Amadis überwunden war, eingesetzt mit süßlich langweiligen schwärmerischen Schäfereien im Geschmacke der von Opitz übersetzten "Arcadia" Sidneys. Wie Zesen dieser Gattung in der "Adriatischen Rosemund", so huldigte er in allerlei breitspurigen biblischen Romanen der dickleibigen Art der aus Frankreich erlernten halb histor.