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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

Staats-, Helden- und Liebesromane: es ist schwer, sich ein Publikum vorzustellen, geduldig genug, um die ungeheuern, langweiligen, anspruchs- und würdevollen Bücher von Buchholtz, Happel, Lohenstein ("Arminius und Thusnelda") hinunterzuwürgen. Der beliebteste und lesbarste Autor der Gattung, Anselm von Ziegler und Kliphausen, verstand es in seiner "Asiatischen Banise" (1689) gut, die geogr. und ethnogr. Kuriositätenlust des Publikums zu befriedigen, der die in Reuters unübertrefflichem "Schelmufsky" (1696) so blutig und persönlich verspotteten Aufschneidereien der Reiseromane Nahrung gaben und der bald die aus Defoes epochemachendem Werk erwachsenden Robinsonaden und Abenteuerromane neuen Stoff zuführen sollten. In ihnen klingt bereits, zumal in Schnabels "Insel Felsenburg" (1731), eine vorrousseauische Sehnsucht durch aus der überreizten und verdorbenen Umgebung heraus nach einer fernen, stillen Stätte der Natur und Unschuld; die obligate satir. Ergänzung dieser idealen Sehnsucht bieten die von tiefer sittlicher Zerrüttung zeugenden Gesellschaftsromane Happels, Hunolds und Weises.

Der nüchterne Pädagog und sehr geschickte Schuldramatiker Christian Weise (1642-1708), dem die Poesie lediglich als nützliches Mittel zur "politischen" Erziehung der Jugend von Wert war, lehrt schon durch seine Persönlichkeit, welch neuer Wandel des Geschmacks sich vorbereitete. Die aufgebauschte Manier der zweiten Schlesischen Schule mochte in einer exklusiven Hof- und Adelsgesellschaft vegetieren; aber die Teilnahme des Adels für deutsche Poesie hatte bald nach dem Kriege nachgelassen, der verarmte, auf harte Arbeit und Entbehrung angewiesene Bürger brauchte andere Kost. Was Speners und Franckes Pietismus seinem Herzen, das wird bald der jenem schnurstracks entgegengesetzte Rationalismus Christ. Wolffs und Thomasius' seinem Kopfe. Beide Männer entsagen dem Zunftstolze der Lateingelehrten; Wolff (1679-1754) verbreitet seine auf dem größten deutschen Denker des Jahrhunderts, auf Leibniz fußende Vernunftphilosophie, die mit ihrer geschlossenen Systematik etwas von der Wirkung erzielte, wie sie später Hegel gelang, in populären deutschen Büchern; Thomasius hält in deutscher Sprache Universitätsvorlesungen und giebt zuerst eine deutsche wissenschaftliche Zeitschrift (1688) heraus. Auch die gleichfalls durch Leibniz beförderte wissenschaftliche Pflege der deutschen Sprache und Litteratur durch Morhof, Schilter u. a. mußte die Selbsterziehung und die Abwendung von der poet. Unnatur begünstigen. So bricht das Reich des Schwulstes jäh zusammen. Eine ganze Anzahl von Hofpoeten, wie Canitz, Besser, Neukirch, entsagen entschlossen dem Stile Lohensteins, der diesen Jüngern der Typus der Manier wird; der geistreiche Epigrammatiker Wernicke zieht polemisch gegen sie zu Felde; positiv überwunden wird sie zumal durch die neuen Töne, die der Hamburger Ratsherr Brockes in seinen mit liebevoller Detailmalerei ausgeführten frommen Naturbildern, der geniale, aber moralisch und physisch früh verkommene Schlesier Günther in seinen von echter Leidenschaft und Herzenspein erpreßten Liedern anschlägt. Vor diesen Stimmen der Natur und Wahrheit verstirbt die Plunderzier des galanten Schwulstes in alle Winde, aber er hinterläßt die deutsche poet. Sprache in erheblich reicherer und feinerer Ausbildung, als er sie seiner Zeit überkommen hatte. Sie war ein Instrument geworden, bequem für die Hand größerer Künstler.

Die geistige Macht der Zeit wird jetzt die Aufklärung. Es lag in ihrem Wesen, daß sie nach breiter, wenn auch flacher Einwirkung auf ein großes Publikum agitatorisch strebte. So fand sie ein erwünschtes Organ in den moralischen Wochenschriften, die, nach dem Muster von Addisons und Steeles berühmten Vorbildern, dem "Tatler", "Spectator", "Guardian" gearbeitet, bald auch Deutschland überschwemmten. Bezeichnend heißt das erste derartige deutsche Blatt "Der Vernünftler" (1714). Der Norden und die Mitte Deutschlands erwiesen sich dieser einseitigen Verstandesbildung zugänglicher als der Süden, der freilich auch weniger von den Ausartungen des verstiegenen Schwulstes betroffen war. Da Preußen unter Friedrich Wilhelm I. für die schöne Litteratur kaum in Betracht kam, so wurde Leipzig, der Sitz eines starken Handelsverkehrs, der Hauptplatz zumal des Buchhandels, dazu die Stätte einer altberühmten anspruchsvollen Universität, auf lange das Centrum unsers litterar. Lebens. Hier wirkte der Mann, der zur Zeit seiner Blüte bis über die Grenzen Deutschlands hinaus als der nahezu unbestrittene Diktator der schönen Litteratur galt, Joh. Christ. Gottsched (1700-66). Als Dichter ganz unfähig, war er, ähnlich wie Opitz, ein starkes theoretisches und organisatorisches Talent, dabei ein ausgezeichneter Gelehrter, der sich ties in die Litteratur der deutschen Vorzeit hereingrub, und ein glühender Patriot, der die deutsche Dichtung zu heben mit allen Kräften sich mühte. Er erkannte richtig, daß ihrer schwülstigen Verwilderung die nüchterne Regelung notthue, in Sprache wie in ästhetischem Geschmack. Er irrte aber, da er zu der Vorstellung sich verleiten ließ, die Regel sei schon das Wesen der Dichtkunst. Dachte er in der Leipziger Deutschen Gesellschaft, deren Senior er war, einen der franz. Akademie vergleichbaren Areopag der Sprachrichtigkeit zu schaffen, so sah er die beste Stütze des Geschmacks in der Antike, die er leider wesentlich in der klassicistischen franz. Dichtung wiederzufinden meinte. Dieser Irrtum wurde verhängnisvoll, zumal für seine an sich höchst verdienstliche Reform der Schaubühne. Der hochangesehene Leipziger Professor verschmähte es nicht, Wandertruppen, vor allem die der tüchtigen Karoline Neuber, für seine Zwecke zu interessieren; er veranlaßte sie, statt der halb oder ganz improvisierten Haupt- und Staatsaktionen mit ihren komischen Einlagen, statt der durchaus extemporierten Hanswurstiaden, wie sie namentlich von Wien aus (Stranitzky, Prehauser, Kurz) verbreitet waren, endlich statt der zotenreichen sächs. Possenfabrikate eines Henrici und Reuter regelmäßige, künstlerisch befriedigende Stücke aufzuführen. Leider reichte weder seine noch seines Kreises Schöpferkraft für diesen Kampf gegen den bisherigen Geschmack des Publikums aus. Mochte die Neuberin den Hanswurst von ihrer Bühne verbannen (1737); daß das Publikum ihn Gottscheds "Sterbendem Cato" vorzog, war ihm nicht zu verargen. Besser gelangen die Lustspiele seiner trefflichen Gattin und die bemerkenswerten Dramen seines Schülers Joh. El. Schlegel (1719-49), der allerdings den Höhepunkt seines Schaffens erst erklomm, als er mit Gottscheds "Deutscher Schaubühne" nichts mehr zu schaffen hatte; einer jüngern Schicht gehörten des Freiherrn von Cronegk (1731-58) pathetische Aufopferungsdramen an. Es bleibt