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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

aufgeklärten Volksseele, wie er in Hamann und Herder lebte, hat dem selbstgefälligen Treiben der Aufklärer zuerst einen Dämpfer aufgesetzt. Beide Männer waren Ostpreußen. Hamann (1730-88), der Magus des Nordens, war ein wunderlich fragmentarischer und paradoxer Schriftsteller, der sich in gesuchten Anspielungen, in mystisch unverständlicher barocker Schreibweise gefiel, der aber in seiner Weltanschauung starke Fermente besaß, höchst geeignet auf andere revolutionierend zu wirken. Er verachtet die Aufklärung, die Herrschaft des Verstandes in tiefster Seele: tausendmal mehr gilt ihm der Glaube, die Anschauung. Alles Regelwerk ist ihm ein Greuel, zumal in der Poesie, die er als die Muttersprache des Menschengeschlechts liebt; nur das Genie, das keine Regel kennt, ist wahrhaft berufen. In der Überzeugung von der hohen Schönheit der Urpoesie als der Schöpfung der naiven unverbildeten Seele berührt er sich mit Rousseau, dessen Ideen noch fruchtbarer aufgingen in Hamanns großem Schüler Herder (1744-1803). Auch Herder war kein Dichter; er besaß poetisch nur die Gabe der Anempfindung, die seinen Übersetzungen (z. B. dem "Cid", erschienen 1805) zu gute kam. Sie machte ihn zum ersten deutschen Litterarhistoriker: mit tiefem geschichtlichem Verständnis versenkt er sich ohne jeden Hochmut in die Dichtung aller Zeiten und Völker, in die Bibel wie in die Lieder der Wilden. Da geht ihm die Erkenntnis auf von dem hohen erfrischenden Werte des Volksliedes, die ihn zu seiner schönen Sammlung "Volkslieder" (1778) veranlaßt und die er auf Goethe überträgt. Wie er forschend und vergleichend die Litteraturen möglichst vieler Völker überschaut, so hegt er das Idealbild einer Weltlitteratur, in der der Deutsche zum Vermittler berufen sei. Herder stellt mit sicherm Gefühl für das urwüchsige Geniale Shakespeare himmelhoch über die Franzosen. Sein Widerwille gegen die Aufklärung treibt ihn in der Theologie zeitweilig bis zu einer mystischen Symbolik, der gewaltige poet. Bilder entwachsen. Aber darüber kommt er hinaus, und seine geistige Höhe erreicht er in der grandiosen geschichtsphilos. Anschauung von der natürlich fortschreitenden histor. Kulturentwicklung der Menschheit, die er in seinen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784) niederlegte. An dieser Stelle traf er genau mit den evolutionistischen Überzeugungen zusammen, die sein größter Jünger Goethe längst auf die gesamte Natur angewendet hatte.

Es war ein folgenschwerer Zufall, der den Johannes des Sturms und Dranges, Herder, 1770 in Straßburg mit dem jungen Goethe zusammenführte. Schon hatte dieser gelernt, in seiner anakreontischen Lyrik die Stimme des Herzens mit Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Jetzt weist ihn der ältere Freund nachdrücklich auf die Griechen, auf Shakespeare und Rousseau, auf das deutsche Volkslied und die deutsche Vergangenheit. Alle diese Saatkörner gehen auf und tragen üppige Frucht. Die Anfänge des "Faust", der genialsten Goetheschen Conception, gelangen noch lange nicht auch nur zum vorläufigen Abschluß. Aber mit seinem shakespearisierenden Ritterdrama "Götz von Berlichingen" (1773), das nicht nur die strenge Dramenform revolutionär zersprengt, sondern auch in sich etwas vom gärenden Geiste polit.-socialer Unzufriedenheit enthält, erzielt er unerhörte Wirkung. Von ihm geht das überreiche patriotische und romantische Ritter- und Räuberdrama aus bis auf Kleists "Käthchen von Heilbronn" und die Birchpfeiffer, bis auf Webers "Euryanthe" und "Preziosa", auf ihm beruht gar der Ritter- und Räuberroman von Spieß und Cramer; die Gestalten und Motive des "Götz" haben ein fast unabsehbares Fortleben gehabt. Und als Goethe im "Werther" (1774) an Stelle blasser Richardsonscher Tugendhelden einen wirklichen, lebensvollen, schwachen Menschen von Rousseauscher Gemütsweiche und zugleich von echt Goethescher Lebenswahrheit setzt, als er da für das Recht des guten zarten Herzens gegenüber der Konvention eintritt, da entfesselt er eine bis zur epidemischen Krankheit ausartende Empfindsamkeit, die weit über die Grenzen Deutschlands nach Italien und Frankreich fortwirkte und Nachahmungen, wie Millers "Siegwart" (1776), Foscolos "Ortis" u. a. hervorrief.

Die geistige Revolution, die nach dem Titel eines Klingerschen Dramas (1776) mit dem Stichwort Sturm und Drang benannt wird und als deren Oberhaupt Goethe seit dem "Götz" ziemlich unbestritten dasteht, zeigt zwei sehr verschiedene Seiten. Dem Kreise, der in Straßburg und Frankfurt sich zusammenfand und der wenigstens während des J. 1772 an den von dem kaustischen Darmstädter Merck redigierten "Frankfurter gelehrten Anzeigen" eine Art Organ besaß, kam es wesentlich an auf die litterar. Befreiung des Individuums von formalem Zwang und gefühlertötender Konvention: immerhin konnte es nicht ausbleiben, daß sich revolutionäre Elemente anderer Art mit einschlichen. Zu den ältern, Merck, Herder, Goethe, tritt da eine Gruppe wüstnaturalistischer Dramatiker, wie der unglückliche Lenz, der kraftvolle, aber forcierte Klinger, der sich später dem polit. Lehrroman zuwandte, der rohe H. L. Wagner; mehr abseits steht der von der Idylle ausgegangene Maler Müller. Die letzten Ausläufer dieser Richtung bilden die ungestümen Jugenddramen (1781-84) des Schwaben Friedr. Schiller; der aus schwäb. Verhältnissen besonders erklärliche Tyrannenhaß dieser Dramen fand sein Gegenstück in der ebenso fürstenfeindlichen Lyrik seines Landsmannes Schubart (1739-91).

Aber wie der Sturm und Drang zum freien Herzen hält gegenüber den Schranken der Sitte, so bekennt er sich zum gläubigen Gemüt im Gegensatz zu der platten Verstandesherrschaft der Aufklärung. So zeigt er eine mystische Seite, die auch Herder und Goethe, zumal aber Hamann, wohl vertraut ist. Sie tritt hervor in den Selbstbekenntnissen (1777) eines der Stillen im Lande, des schlichten Jung-Stilling, in der unklaren, frommen Gefühlsphilosophie Friedr. Heinr. Jacobis, in dem anspruchsvollen, aber bestechenden Prophetentum Joh. Casp. Lavaters, und hat fortgewirkt bis in die Zeiten der Romantik, die in mancher Hinsicht das Erbe des Sturmes und Dranges antrat. Ihr konnte nicht einmal die kritische Methode Immanuel Kants (1724-1804) etwas anhaben, da er Glauben und Verstand sorgfältig voneinander sonderte. Kant war sozusagen ein Spätling der Aufklärung, ihr letzter größter Jünger und ihr überzeugtester Anhänger. Aber gerade seine Kritik der Vernunft selbst half das seichte übertriebene Vernunftvertrauen untergraben, und der uneigennützig harte und konsequente Pflichtbegriff, den Kant vertrat, enthielt einen erziehlichen und sittlichen Schwung, der dem rechten Aufklärer immer unheimlich war. Und wenig