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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

wußte der auch anzufangen mit Kants ästhetischen Arbeiten, die vielmehr in Schiller den rechten Interpreten und Fortbildner finden sollten.

Im J. 1775 folgt Goethe einem Rufe des jungen Herzogs Karl August nach Weimar. Er findet dort Wieland, es gelingt ihm Herder dahin zu ziehen. Die goldenen Tage von Weimar beginnen. Für Goethe ist der Wechsel des Schauplatzes und der Lebensaufgaben von entscheidender Bedeutung. Im geregelten Hofleben, im Verkehr mit dem höfischen Adel lernt er Selbstbeherrschung und Sitte schätzen; seine reiche Beamtenthätigkeit gewährt ihm tiefe und weite Einblicke in Menschenleben und Natur, die ihm eine wunderbare Vielseitigkeit der Interessen verschaffen; das Gefühl der Verantwortlichkeit, die bildende Freundschaft einer edeln Frau mäßigt ihn mehr und mehr; der Revolutionär wird auf einer höhern geistigen Stufe der wärmste Verfechter schöner Form und ruhiger Entwicklung. Wieder wird unserer Litteratur das mitthätige Interesse des Adels gewonnen. Goethes ital. Reise (1786), seine unmittelbare Berührung mit der Antike bringt einen lange vorbereiteten Umschwung nur zum Abschluß. Der Jünger Shakespeares schafft in "Iphigenie" (1787) und "Tasso" (1790) Seelendramen des edelsten, vornehmsten Stils; der frühere Verfechter des charakteristisch Nationalen bekehrt sich, geleitet von der antiken Kunst, zur reinen Menschlichkeit. Im selben Jahre, als die "Iphigenie" erschien, hatte der schwäb. Stürmer, Friedr. Schiller, den Weg von der naturalistischen Prosa seiner Jugenddramen zu dem hinreißenden rhetorischen Freundschafts- und Freiheitspathos seines "Don Carlos" (1787) gefunden. Die harte geistige Zucht der Kantschen Philosophie, die bereichernden histor. Studien, zu denen ihn sein Beruf zwang, reiften den Feuerkopf heran für Goethes Freundschaft. Der Bund der beiden Männer, der sich zuerst in den "Horen", dann in dem staubaufwirbelnden Xenienalmanach von 1796 manifestierte, bedeutet den Gipfel unserer gesamten Dichtung. Wohl war Goethe, auf der Höhe einer allumfassenden Weltanschauung angelangt, der zugleich reichere und tiefere; aber Schillers rastloser, von den Interessen der Gegenwart stark bewegter Geist verstand es, auch des Freundes Produktivität zu stacheln, ihn aus seiner vornehmen Abgeschlossenheit in die litterar. Bewegungen des Tags hereinzuziehen. Damals verfaßte Goethe "Hermann und Dorothea" (1797), das köstlichste deutsche Familienidyll, und "Die natürliche Tochter" (1804), in denen beiden er zur Französischen Revolution Stellung nimmt; unter Schillers Antrieb vollendet er "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795), einen Entwicklungsroman, der tief in die ästhetischen und socialen Fragen der Zeit hineinführte und eine Fülle der Gestalten und Motive zeigt, reich wie das Leben selbst; auf Schillers Drängen fördert er den ersten Teil des "Faust" näher zum Abschluß. Unendlich mehr dankte Schiller dem Bunde, der ihn zu seinen klassischen Schöpfungen anfeuerte. Bei ihm zeitigt der Verkehr mit dem bewunderten Freunde ästhetische Schriften, die in der Unterscheidung der naiven und sentimentalischen Dichtung (1795) einen außerordentlich fruchtbaren Gedanken zu Tage förderten; jetzt schuf er seine Balladen (1797), jetzt die lange Reihe seiner Dramen vom "Wallenstein" (1800) bis zum "Tell" (1804); das Weimarer Theater, das unter Goethes Leitung stand, schaffte dem populärsten deutschen Dramatiker auch die nötige Bühnenkunde. Beiden Männern sind die Griechen der Typus schönster Menschlichkeit, beiden ist humanistisch-ästhetische Erziehung ohne Einseitigkeit die Bedingung gesunden Fortschritts der Menschheit. Goethe verlor die verständnisvollste Seele, den einzig ihm selbst vergleichbaren Vertrauten seiner innersten künstlerischen Gedanken, als ihm der Tod den Freund entriß (1805). Jetzt erst beginnt für ihn die imposante Einsamkeit, in der er mehr und mehr als der größte Dichter und Weise Deutschlands streitlos anerkannt, hoch über dem gewöhnlichen litterar. Treiben thronend, bewundert von den Besten, gehaßt von dem litterar. Pöbel, bis ans Ende das geistige Scepter führt.

Wir sind gewöhnt, in Goethe und Schiller die beiden hochragenden Wipfel unsers Dichterwaldes anzustaunen und das Unterholz zu ihren Füßen kaum zu beachten. Aber diesen heute selbstverständlich erscheinenden Platz in der Schätzung des Publikums gewannen die Freunde erst seit dem Anfang dieses Jahrhunderts mit schnell wachsender Entschiedenheit. Die Lieblinge weiter Kreise waren sie zunächst nicht; das Volk holt sich die ihm bequeme geistige Nahrung anderswo. Besonders charakteristisch ist dafür das Repertoire, das Goethe an der Weimarer Bühne abspielen lassen mußte: wie treten seine und Schillers Dramen zurück hinter den Schau- und Lustspielen der Bühnenbeherrscher, des tüchtigen, gut beobachtenden, aber doch unbedeutenden und über ein flott gezeichnetes Genrebild nicht herausstrebenden Iffland, des fleißigen und bühnengeschickten, an effektvollen Erfindungen reichen F. L. Schröder, des grobkörnigen Großmann, vor allem des höchst talentvollen und produktiven, aber leichtfertigen und frivol weichlichen Aug. von Kotzebue (1761-1819). Seine süßliche Rührseligkeit verhöhnt satirisch Mahlmann (1803); das biedere Soldatenstück im Stil der "Minna von Barnhelm" kultiviert der Wiener Stephanie; als Lustspieldichter waren Jünger und Bretzner beliebt, letzterer der Verfasser des Textbuches für Mozarts "Entführung". Zauberstücke, wie sie Schikaneder z. B. in der "Zauberflöte" (1793) leistete, gediehen zumal in Wien, so durch Hafner, Perinet, Hensler, den Dichter des "Donauweibchen" (1792); meist werden sie durch glückliche Kompositionen unterstützt; die Musik kam auch den Singspielen und Melodramen Gotters zu gute; das vaterländische und Ritterdrama fand namentlich an den Bayern Babo und Törring achtbare, an dem Österreicher Weidmann einen fruchtbaren Vertreter. Eine absonderliche Specialität hatte der Litterat Plümicke in der bühnengerechten Verarbeitung fremder, namentlich Schillerscher Stücke.

Dieselbe Bevorzugung sentimentalen Kitzels oder roher Aufregung vor den feinen geistigen Genüssen der klassischen Werke zeigt sich auf dem Gebiete des Romans. Nicht nur daß die Ritter- und Räuberromane der Spieß, Cramer, Vulpius, Schlenkert verschlungen wurden, einen womöglich noch schlimmern Reiz boten die lüsternen Produkte Lafontaines, Langbeins, Althings, auch des talentvollen Jul. von Voß. Während K.' Phil. Moritzens "Anton Reiser" (1785), ein psychol. Roman hohen Ranges, nur eine sehr kleine Leserzahl gewann, jubelt man bis in die höchsten Kreise begeistert dem Romancier der Mode zu, dem geistreich empfindsamen Jean Paul (1763-1823), dessen Ruhm seiner Zeit den der Klassiker weit überholte. Es war ein Ruhm des