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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Sprache (Geschichte)

minina gefolgt, z. B. «Blume», «Backe», «Rippe». Nicht minder umfangreich ist die Neugestaltung der Verbalflexion. – Das wichtigste Kennzeichen der neuhochdeutschen Sprache ist hier die Ausgleichung der ursprünglich verschiedenen Vokale des Singular und des Plural des Präteritums, die bis auf wenige Mundarten im ganzen deutschen Sprachgebiet durchgedrungen ist: mittelhochdeutsch steig, Plural stigen zu «stieg», «stiegen», lêh, lîhen zu «lieh», «liehen»; der Vokal des Singulars wurde verallgemeinert z.B. in mittelhochdeutsch half, hulfen zu «half», «halfen», mittelhochdeutsch sang, sungen zu «sang», «sangen» (das noch bestehende «ward» neben «wurde», mittelhochdeutsch ward, wurten); quantitativ siegte der Vokal des Plurals in mittelhochdeutsch sprach, sprâchen zu «sprach», «sprachen»; nam, nâmen zu «nahm», «nahmen». Auch das Participium des Präteritums nahm vielfach an diesem Ausgleichungsprozeß teil: mittelhochdeutsch floug, flugen, geflogen zu «flog», «flogen», «geflogen»; schôz, schuzzen, geschozzen zu «schoß», «schossen», «geschossen». Der sog. grammatische Wechsel, der z. B. mittelhochdeutsch zôch von zugen, gezogen, mittelhochdeutsch ward von wurten, worten, mittelhochdeutsch verlôs von verlurn, verlorn schied, wurde aufgehoben: neuhochdeutsch zog, zogen, gezogen; wurde, wurden, geworden; verlor, verloren, verloren. Während das Präsens «ziehen», «schneiden» noch heute einen andern Konsonanten hat als das Präteritum «zog», «schnitt», hat z. B. mittelhochdeutsch verliesen das r des Präteritums angenommen. Diese Ausgleichungen finden sich vereinzelt schon im ältern Mittelhochdeutschen und Mittelniederdeutschen, häufiger erst im 15. Jahrh. Noch Luther hält in bestimmten Fällen an den alten Formen fest. Erst im 17. Jahrh. ist der Sieg der modernen Formen entschieden. Die 1. Person Singularis Ind. Präs. hat (zuerst niederdeutsch) den Vokal des Plurals und Infinitivs angenommen: mittelhochdeutsch nemen, ich nime, du nimest, er nimet, wir nemen zu neuhochdeutsch nehmen, nehme, nimmst, nimmt, nehmen. Die verschiedenen Klassen der schwachen Verba waren schon in mittelhochdeutscher und mittelniederdeutscher Zeit fast völlig zusammengefallen. Jetzt traten einzelne schwache Verba in die starke Konjugation über, z. B. «preisen», «einladen» (Präteritum mittelhochdeutsch prisete, ladete), und viel häufiger war das Umgekehrte der Fall, z. B. wurden früher die Verba falten, spannen, schaben, hinken, kauen stark konjugiert. Seit dem 15. Jahrh. ist im Oberdeutschen und Ost- und Rheinfränkischen das Präteritum außer Gebrauch gekommen, an dessen Stelle hinfort Umschreibungen mit «haben» oder «sein» traten. – Unberücksichtigt ist bei der Aufzählung der Neuerungen dieser Periode das geblieben, was in der modernen Sprache der Gebildeten nicht mehr zum Ausdruck kommt, wiewohl in dem größten Teile des deutschen Sprachgebietes Z. B. ā zu offenem ō geworden ist («Jahr» zu «Johr»), ö, ü und eu (äu) zu e, i und ai («schön» zu «scheen», «Müller» zu «Miller», «Leute» zu «Laite»), auslautendes -e abgefallen ist («Freude» zu «Freud’»), rs als rsch gesprochen wird («Wurst» zu «Wurscht», so schriftsprachlich «Bursche» aus mittelhochdeutsch burse).

Die angeführten Neugestaltungen sind im ganzen zwischen 1250 und 1650 vor sich gegangen, wenn sie auch in ihren Konsequenzen bis in die Gegenwart hinein fortgewirkt haben. Um die Mitte des 17. Jahrh. ist die moderne D. S. in der Hauptsache fertig gewesen, und seitdem ist kein sprachliches Ereignis von größerer Tragweite mehr zu verzeichnen, es sei denn, daß man als ein solches die mannigfachen Bedeutungsveränderungen alter Wörter und die Bereicherung des Wortschatzes durch neue betrachten will. Damals ist auch die Herrschaft der Schriftsprache allgemein anerkannt worden, und fortan scheidet man zwischen D. S. und deutschen Mundarten. Auch in Niederdeutschland war damals der Sieg der hochdeutschen Schriftsprache entschieden; nur politisch selbständiger behielten die Niederlande ihre niederfränk. Mundart auch als Schriftsprache bei. Seit dem 17. Jahrh. hat die Schriftsprache einen allmählich zunehmenden Einfluß auf die gesprochene mundartliche Sprache gewonnen (u. a. durch die Bühne), der erst seit den letzten Jahrzehnten rasche Fortschritte macht. Nur in einem Punkte weicht die gesprochene Sprache von der Schriftsprache ab: während diese die oberdeutschen Diphthonge ie und u (geschrieben ŭ, d. i. ů = uo) wiedergiebt, sprechen wir nach mitteldeutscher Weise ein langes i und u (z. B. in den Worten «Liebe» und «gut»). Die Schriftsprache ist die Sprache der Gebildeten geworden, wenn auch die Aussprache überall auf der Mundart beruht. Aber auch in diesem Punkte findet jetzt eine sprachliche Ausgleichung zwischen Nord und Süd statt infolge des durch die Eisenbahnen so gewaltig gesteigerten Verkehrs. Goethe, als Frankfurter, reimte seiner Aussprache gemäß noch können: verbrennen, Zweifel: Teufel, an: Wahn, Kellernest: angemäst’t, gewiesen: Füßen, schaden: rathen, neige: Schmerzensreiche. Als eine fremde Sprache hat der Niederdeutsche das Hochdeutsch gelernt. Der Hochdeutsche selbst hat seine Mundart immer mehr dem Schriftdeutsch genähert. Je höher seine gesellschaftliche Stellung, um so mehr entfernt er sich von seiner Mundart. Zwischen der gemeindeutschen Verkehrssprache und der Mundart giebt es jetzt mannigfache Abstufungen. Die Sprechweise eines jeden Standes wird durch die des jeweilig höhern beeinflußt, und um die Reinheit der Mundarten ist es geschehen. Noch heute ist, um nur der Aussprache zu gedenken, in der Sprache der Gebildeten keine Einigung erzielt in Bezug auf 1) den Tonfall, der in jeder Landschaft verschieden ist; 2) die Vokalquantität in gewissen Fällen, z. B. «Tag», «Hof», «Schmied» («Schmidt»), «Wuchs» mit langem, nur norddeutsch mit kurzem Vokal; «giebt» («gibt»), «liest» («list»), «husten» mit kurzem, nur norddeutsch mit langem Vokal; «Arzt» mit überall verschiedener Quantität; in allen derartigen Fällen besteht heute die Tendenz, der Länge den Vorzug zu geben; 3) die Aussprache von e (und ä); der Volksmund scheidet fast überall offenes e (= etymologisch german. e) und geschlossenes e (= etymolog. Umlaut von a); jetzt scheint entweder die auf der Orthographie beruhende Aussprache durchdringen zu wollen, nach der jedes lange e geschlossen, jedes lange ä offen ausgesprochen wird, oder die Berliner, die nur geschlossenes langes e kennt; 4) die Aussprache des kurzen i und u (in Norddeutschland offen, in Mittel- und Süddeutschland geschlossen, also qualitativ wie langes i und u); 5) die Aussprache von ei und au (hier wie äi, ou, dort wie āe, āo gesprochen); 6) die Aussprache von b, d und g; der Oberdeutsche spricht stimmloses b, d, g; der Mitteldeutsche desgleichen, nur spricht er b zwischen Vokalen wie bilabiales w, und g zwischen