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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsches Volk

von ihnen hatte den Angelsachsen, als diese noch in Schleswig-Holstein saßen, zugehört, und noch heute stehen die Niedersachsen, zumal die Küstenbewohner, den Engländern in gewisser Beziehung näher als den Hochdeutschen. Nach der Auswanderung der Angelsachsen bildeten die festländischen Sachsen mit den ihnen unterworfenen fränk. und thüring. Grenzstämmen ein besonderes Volk für sich, mit eigenen staatlichen Einrichtungen. Erst ihre polit. und religiöse Unterjochung durch Karl d. Gr. führte sie seit 797 dem deutschen (damals fränk.) Staatsverbande zu. Die andern deutschen Stämme, Franken und Hessen einerseits, Thüringer, Alemannen, Bayern und Langobarden andererseits, hatten sich von Hause aus näher gestanden, aber doch auch besondere staatliche Verbände für sich gebildet und fühlten sich als selbständige Völker. Auf der fränk. Eroberungslust und der organisatorischen Fähigkeit Karls d. Gr. beruht die polit. Einigung Deutschlands. Die Hessen hatten sich schon seit alters den Franken politisch angeschlossen. Die Alamannen wurden zum Teil 496, endgültig 536 unterworfen, die Thüringer 531, die Bayern 788, die Langobarden 774 und 787. Die Friesen mußten sich zwar auch unterwerfen, bewahrten aber eine unabhängigere Stellung als die deutschen Stämme. Auch die gar nicht zu den Westgermanen gehörenden Burgunden an der Rhône, die 534 unterworfen wurden, würden voraussichtlich im Laufe der Zeit zu Deutschen geworden sein, wenn sie nicht, wie die Langobarden in Italien, bald romanisiert worden wären. Karl d. Gr. schmiedete das Frankenreich durch die Verfassung fest zusammen, indem er die fränk. Verwaltung über sein ganzes Reich ausdehnte. Wenn auch die einzelnen deutschen Stämme ihre Eigenart bewahrten, so einte sie doch alle ein polit. Band, und erst jetzt, zumal nach der polit. Abtrennung des roman. Frankreich (843 und 870), konnte sich ein deutsch-nationales Bewußtsein herausbilden (das Wort "deutsch" kommt zum erstenmal Ende des 8. Jahrh. vor, der Volksname "Deutsche" im 9. Jahrh., wird jedoch noch bis ins 13. Jahrh. selten gebraucht). In diesem Sinne darf man sagen, daß ein D. V. erst seit Karl d. Gr. besteht, also seit ungefähr 1100 Jahren. Nur mittels der Sprachgeschichte kann man für die vorhergehenden Jahrhunderte in den nachmals deutschen Stämmen der Germanen schon Deutsche erkennen.

Die alten deutschen Stämme nebst ihren Unterstämmen bestehen innerhalb der Grenzen, die etwa seit dem Ende des 6. Jahrh. ihre Gebiete abschlossen, bis auf den heutigen Tag fort (s. die Karte der Deutschen Mundarten). Noch heute ist das schwäb., bayr., niedersächs. Stammesbewußtsein lebendig. Wesentlich ist für die Überbrückung der Stammesgegensätze die kolonisatorische Fähigkeit der Franken gewesen. Die Alamannen hatten bis 496 das ganze westl. Maingebiet und den mittlern Rhein nördlich bis etwa zur Mosel besessen. In diesem Gebiet nördlich des Neckar siedelten sich seit 496 Franken an, die dem Lande den Namen gaben. Es entstand so durch Mischung der sitzen gebliebenen Alamannen mit den fränk. Kolonisten der neue deutsche Stamm der Rheinfranken. Ebenso erwuchs aus den im obern Maingebiet neben den einheimischen Thüringern ansässigen Franken der neue Stamm der Ostfranken. Fränk. Dörfer wurden im alamann. Elsaß gegründet. Karl d. Gr. legte im Sachsenlande fränk. Kolonien an und siedelte große Scharen von Sachsen innerhalb des fränk. Gebietes an. Sachsen hatten sich schon 531 in den thüring. Landesteilen zwischen Elbe und Unstrut niedergelassen. Nachmals, im 13. Jahrh., mischten sich östlich der Saale bis zur Oder Ostfranken und Thüringer, in der Mark Brandenburg, in Hinterpommern, in West- und Ostpreußen Niederfranken und Niedersachsen. Franken haben am Rhein und am Main, an der Elbe und östlich der Saale und Elbe die Deutschen zusammengekittet.

Die Stammesunterschiede bestanden indes seit Karl d. Gr. nicht nur fort, sondern verschärften sich in den folgenden Jahrhunderten. Jeder Stamm bildete noch bis ins 13. Jahrh. ein besonderes Herzogtum, und die Kreiseinteilung Maximilians (1495) trug wenigstens zum Teil noch den Stammesgrenzen Rechnung. Aber die Stämme fühlten sich jetzt nicht nur als Franken, Bayern u. s. w., sondern auch als Deutsche. Das Bewußtsein der nationalen Einheit ist wohl später durch die polit. Ereignisse gehemmt und gestört worden, aber nicht wieder verloren gegangen, wenn es auch erst durch die Gründung des neuen Deutschen Reichs seine wirkliche Vollendung erfahren hat. Die religiöse Einigung des D. V. wurde ebenfalls durch Karl d. Gr. vollzogen, der die Sachsen zwangsweise zum Christentum bekehrte. Aufgehoben wurde sie erst wieder durch die Folgen der Reformation. In anderer Hinsicht hat die geistige Einheit des D. V. in Frage gestanden, als es galt, eine einheitliche, über den Mundarten stehende deutsche Gemeinsprache zu erringen. (S. Deutsche Sprache, I, 2.) Damals haben sich die Niederfranken Belgiens und der Niederlande und die Niedersachsen östlich von dem Zuidersee von dem D. V. dadurch getrennt, daß sie, gestützt auf eine eigene bedeutende litterar. Vergangenheit, nicht die deutsche Schriftsprache angenommen haben: sie fühlten sich fortan nur als Niederländer, nicht mehr als Deutsche. Für die andern deutschen Stämme aber bedeutet die zum Teil unter schweren geistigen Kämpfen errungene Spracheinigung in hervorragendem Sinne eine nationale Einigung.

Das alte Deutsche Reich hatte seit dem 9. Jahrh. im Westen die Romanen an der obern Maas und Mosel mit umfaßt, Slawen im Südosten, in Böhmen und Mähren und nachmals östlich von der Saale und Elbe und an der Oder; dazu zeitweise die savoyischen und nordital. Romanen. Die polit. Lostrennung der roman. Landesteile kann nur als ein nationaler Gewinn angesehen werden. Aber eine Einbuße erlitt das D. V. durch den Verlust der Niederlande (1581) und der deutschen Schweiz (1495), den der Westfälische Friede 1648 bestätigt hat, durch den Verlust des in seiner nördl. Hälfte deutschen Belgiens 1797 (bestätigt 1815) und das Ausscheiden (1866) des in seinen Hauptteilen deutsch redenden Österreichs aus dem polit. Verbande des D. V. Elsaß und Deutsch-Lothringen wurden 1871 wieder gewonnen.

Vgl. Wachsmuth, Geschichte deutscher Nationalität (2 Bde., Braunschw. 1860); J.^[Julius] Tietz, Die geschichtliche Entwicklung des Deutschen Nationalbewußtseins (Hannov. 1880); K. Lamprecht, Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins (in seiner "Deutschen Geschichte", Bd. 1, Berl. 1891); Schultheiß, Geschichte des deutschen Nationalgefühls (Bd. 1, Münch. und Lpz. 1893).

2) Merkmale des deutschen Volks und der deutschen Stämme. Durchgehende körperliche Merkmale des D. V. giebt es nicht, sondern nur solche der Germanen (s. d.) überhaupt. Der Nord-^[folgende Seite]