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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1815-66)

rungen aufzustellen. Zwar traten mehrere deutsche Regierungen, wie Nassau (1814), Sachsen-Weimar (1816), Bayern und Baden (1818), Württemberg (1819), mit konstitutionellen Verfassungen hervor; aber gerade die größern Staaten, namentlich Preußen, das in der Verordnung vom 22. Mai 1815 eine allgemeine Nationalvertretung in Aussicht gestellt hatte, zögerten mit der Erfüllung. Bei den vielen unreifen und gärenden Elementen der nationalen und freisinnigen Richtung wurde es der reaktionären Partei nicht schwer, jene zu verdächtigen und die Regierungen mit Argwohn zu erfüllen. Einige Unbesonnenheiten der studierenden Jugend, namentlich auf dem Wartburgfest (1817), wurden benutzt, die Gefahren des in Deutschland vorhandenen revolutionären Geistes in übertriebenem Lichte darzustellen. Die Ermordung Kotzebues durch Sand (23. März 1819) und das Attentat des Apothekers Löning auf den nassauischen Regierungspräsidenten Ibell (1. Juli 1819) schienen diese Auffassung zu bestätigen. Die Karlsbader Beschlüsse (s. d.), am 20. Sept. 1819 vom Bundestage angenommen, stellten die Universitäten unter Aufsicht von außerordentlichen Regierungsbevollmächtigten, führten, im Widerspruch mit der Bundesakte, die Censur zurück und schufen die Central-Untersuchungskommission zu Mainz, deren Aufgabe es war, die geheimen Verbindungen und die angeblich in ihnen versteckten demagogischen Umtriebe aufzuspüren. Noch in demselben Jahre trat auch in Preußen durch den Austritt der Minister W. von Humboldt, Boyen und Beyme aus dem Ministerium ein Wechsel in reaktionärem Sinne ein. Inzwischen war die Bundesverfassung durch die Wiener Schlußakte vom 8. Juni 1820 ergänzt worden; sie bestätigte freilich das Princip des losen völkerrechtlichen Bundes und der vollen Souveränität der Fürsten, ohne auf die nationalen Forderungen und die freiheitliche Entwicklung in den Einzelstaaten Rücksicht zu nehmen.

Bedeutungsvoll für Preußens künftige Politik war der Art. 6, der die Abtretung von Souveränitätsrechten an Mitverbündete gestattete. In dem, was Preußen in dieser Richtung bei Begründung des Zollvereins (s. d.) that, liegt der Fortschritt der deutschen Entwicklung in diesem Jahrzehnt. Am Bundestage fand die von Preußen geförderte Bundeskriegsverfassung bei den Mittel- und Kleinstaaten hemmenden Widerstand, während umgekehrt die Parteinahme Württembergs für den konstitutionellen Gedanken von den Großmächten bald niedergedrückt wurde. Mehr und mehr dadurch in das rein liberale Fahrwasser gedrängt, ward die öffentliche Meinung durch die franz. Julirevolution 1830 mächtig erregt. Teils durch Agitation, teils durch Auflehnung wurden die kleinern deutschen Regierungen zu Konzessionen gezwungen, während die Großmächte durch die in Polen und Belgien ausgebrochene Revolution im Schach gehalten waren.

Jetzt erhielten Kurhessen, Braunschweig und Sachsen neue Verfassungen. In andern Staaten wurde die freie Presse eingeführt und die Gesetzgebung im Sinne des Liberalismus umgestaltet. Einzelne Übertreibungen, wie sie sich z. B. auf dem Hambacher Feste (s. Hambach) kundgaben, wurden sehr bald für die Regierungen Handhaben, energisch einzuschreiten und die gemachten Konzessionen durch Bundesmaßregeln wieder aufzuheben (1832). Weitere Kundgebungen, wie das Frankfurter Attentat (s. d.) 1833, dienten nur dazu, die polizeiliche Thätigkeit des Bundestags zu steigern. Den Schlußstein dieser Thätigkeit bildeten die auf den Ministerkonferenzen in Wien gefaßten geheimen Konferenzbeschlüsse von 1834, welche direkt gegen die einzelnen Repräsentativverfassungen gerichtet waren und deren Befugnisse beschränken sollten.

Einen Wendepunkt in diesen reaktionären Bestrebungen brachte das J. 1837 hervor. Der Tod Wilhelms IV. von England hob die Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover auf und rief den Bruder des Verstorbenen, Ernst August, als König auf den hannov. Thron. Er begann seine Regierung damit, die in anerkannter Wirksamkeit bestehende und danach den Schutz der Wiener Schlußakte genießende Verfassung von 1833 aufzuheben und die alte Verfassung von 1819 herzustellen. Der legale Widerstand, den er im ganzen Lande fand, wurde zwar allmählich mit gewaltsamen Mitteln überwältigt, aber der Eindruck dieses Ereignisses war außerordentlich groß, besonders seit der Bundestag, zum Schutze der Verfassung angerufen, sich für inkompetent erklärte. Von diesem Augenblicke an war das moralische Vertrauen auf den Bundestag aufs tiefste erschüttert, und man sah in ihm nur noch ein polizeiliches Institut. Der gleichzeitig ausgebrochene Streit des Erzbischofs von Köln, Droste-Vischering, mit der preuß. Regierung trug ebenfalls dazu bei, die Gärung zu unterhalten, zumal derselbe enthüllte, welche Macht die röm.-hierarchische Partei in Deutschland erlangt hatte. Mitten in diese Widerwärtigkeiten fiel die Gründung des Preußisch-Deutschen Zollvereins. Nachdem die in der Bundesverfassung von 1815 in dieser Richtung gegebenen Zusagen unerfüllt geblieben, hatten sich die einzelnen Staaten durch gesonderte Verbindungen zu helfen gesucht; Preußen hatte 1818 sein eigenes Zollsystem eingeführt, und 1828 gelang es ihm, den ersten Zollverein mit Hessen-Darmstadt abzuschließen. Gleichzeitig einigten sich Bayern und Württemberg, und im Gegensatz zu dem preuß. System schlossen Sachsen, Hannover, Kurhessen, Nassau und Oldenburg den Mitteldeutschen Handelsverein ab. Aber alles drängte zu weiterer Einigung; Preußen verständigte sich schon 1829 mit Bayern und Württemberg, und 1833 kam der Zollverein zwischen Preußen und dem größten Teile der Mittel- und Kleinstaaten zu stande. War schon die materielle Wirkung des Vereins eine sehr wohlthätige, indem sie in Verbindung mit den neugegründeten Verkehrsmitteln, namentlich den nun allerwärts begonnenen Eisenbahnen, eine neue Periode des deutschen Handels und der Industrie hervorrief, so überzeugte er auch die einzelnen Staaten und Stämme von der Notwendigkeit einer einträchtigen Verbindung und leistete dem Drange nach nationaler Einheit Vorschub.

Das J. 1840 entfachte die alten Kriegs- und Eroberungsgelüste Frankreichs; wenigstens schlug das Ministerium Thiers, als es sich in der ägypt.-syr. Frage isoliert sah, diesen Ton drohend an. Mit ungewohnter Energie sprach man sich in ganz Deutschland gegen jede Wiederbelebung Napoleonischer Tendenzen aus. Der nationale Gedanke war wiederum erwacht; die Aufgabe der Regierungen war es, ihn zu pflegen und durch eine freiere Bewegung in öffentlichen Dingen die vorhandenen Mißverhältnisse auszugleichen. Es galt jetzt, das unselige System des Mißtrauens und der polizeilichen Bevormundung aufzugeben, dem öffentlichen