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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1815-66)

darüber einstimmige Erklärungen an die Regierungen ab; Männer der verschiedensten polit. Meinungen waren in dieser nationalen Frage gleicher Ansicht. Der "Offene Brief", den König Christian VIII. 8. Juli 1846 erließ, erklärte dem guten Rechte der Herzogtümer den Krieg und suchte die Streitfrage im einseitig dän. Sinne zu lösen, indem er die Trennung von Schleswig und Holstein in Aussicht stellte, falls nicht auch auf letzteres die weibliche Erbfolge ausgedehnt würde. Der tiefe Eindruck, den in Deutschland dieser Schritt und die entschlossene Haltung der Herzogtümer machte, sprach sich in wiederholten Beschlüssen der Ständeversammlungen und einem Adressensturm aus, an dem sich alle Teile und Parteien Deutschlands beteiligten. Selbst der Bundestag sah sich genötigt, auf die Beschwerde der holstein. Stände einen "Bescheid zu geben (17. Sept.), der wenigstens das Recht der Herzogtümer nicht preisgab.

Daneben fehlte es nicht an mächtigen Hebeln materieller Art, die vorhandene Bewegung zu steigern. Der Zollverein hatte eine im allgemeinen durchaus wohlthätige Wirkung geübt, wenn sich auch in ihm die mehr freihändlerischen Tendenzen des Nordens und Ostens mit den überwiegend schutzzöllnerischen des Südens und Westens unversöhnt bekämpften. Diese Händel hatten die gute Wirkung, daß sich auch auf diesem Gebiete eine lebhaftere Teilnahme für die eigenen Interessen, selbst in Vereinen und in der Presse kundgab. Die Erweiterung der Verkehrsmittel, namentlich der Eisenbahnen, war in Deutschland wirksamer gefördert worden, als es die kleinstaatliche Zersplitterung erwarten ließ. Dennoch waren materielle Notstände nicht zu verkennen, sie gaben sich in der immer zunehmenden Auswanderung, in der traurigen Lage der schles. Weber kund und steigerten sich in bedenklichem Maße durch Mißwachs und Teuerung der Lebensmittel. Die Jahre dieser materiellen Krisis (1845 und 1846) trafen mit den bewegten polit. Stimmungen zusammen und halfen den polit. Mißmut auch in Kreise übertragen, die bisher noch solchen Anregungen fremd geblieben waren.

An allen diesen Bewegungen Deutschlands nahm Österreich infolge der dortigen Absperrungspolitik einen nur mittelbaren Anteil. Aber es waren dort andere Gärungsstoffe gesammelt. Die alte Regierungsmaschine stockte; an die Stelle eines selbstthätigen Regiments war ein geistloser Mechanismus getreten, der den Bedürfnissen des Kaiserstaates gegenüber sich auf allen Gebieten als unzureichend erwies. Die finanziellen Zustände waren immer schlimmer geworden; die mit großer Virtuosität getriebene Kunst der Bücherpolizei fing an, der Regierung mehr Gehässigkeit und Opposition als Nutzen zu stiften; die Ideen, die man bannen wollte, fanden nichtsdestoweniger ihren Weg in die Bevölkerung. Der Zusammenhang des Kaiserstaates war in der langen Friedensperiode gelockert, nicht befestigt worden. Magyaren, Slawen, Italiener erhoben sich gegen die nivellierende Tendenz der Wiener Kabinettsregierung, und es wollte die alte Klugheit, eine Nationalität durch die andere in Schach zu halten, sich nicht mehr bewähren. Man mußte, namentlich in Ungarn, Konzessionen machen, die der Anstoß zu immer lebhaftern Forderungen wurden. Selbst in den feudalistisch gebildeten Provinzialständen erwachte allmählich eine Opposition, die zwar zunächst nur auf aristokratisch-ständischen Grundlagen beruhte, deren moralische Wirkungen aber weit über diesen Kreis hinausgingen.

War Österreich aus seiner deutschen Stellung mehr zurückgetreten und an Preußen der leitende moralische Einfluß übergegangen, so mußte auch jeder bedeutende Schritt, der in Preußen geschah, von doppeltem Gewicht für die gesamte deutsche Entwicklung sein. Dies war denn auch der Fall bei dem Verfassungspatent vom 3. Febr. 1847, das einen aus den gesamten Provinzialständen vereinigten Landtag mit sehr beschränkten und abgewogenen Befugnissen, mit dem überall scharf betonten Gegensatze gegen eine konstitutionelle Staatsverfassung, ohne periodische Wiederkehr u. s. w., schuf; für den reinen Absolutismus schon zu weit gehend, den Anhängern einer konstitutionellen Verfassung durchaus unzureichend. Fürchtete jener, und zwar nicht mit Unrecht, es würden dadurch neue Gärungsstoffe in die alten Verhältnisse hineingeworfen und neue weiter gehende Forderungen geweckt, so sahen diese in dem Patent eine Verkümmerung der namentlich in dem Gesetze von 1820 verheißenen Rechte einer Nationalrepräsentation, und rieten alles Ernstes, die neue Gewährung geradezu zurückzuweisen. Die Eröffnung des Vereinigten Landtags (11. April 1847), namentlich die alle konstitutionellen Erwartungen zurückweisende Rede des Königs, mußte jene Mißstimmungen nur noch vermehren. Die Beratungen des Landtags erwiesen ein unverkennbares moralisches Übergewicht der konstitutionellen Opposition und machten in ganz Deutschland einen Eindruck, der über die Stimmung der Nation keinen Zweifel mehr übrigließ. Die Haltung des Landtags war jedoch durchaus loyal und royalistisch; alles ungestüme Drängen ward vermieden, aber das Recht auf die Verheißungen von 1820 wurde gewahrt. Dennoch erfolgten sowohl in der königl. Botschaft vom 24. Juni als in dem Landtagsabschiede meist ablehnende Bescheide auf die Wünsche der Versammlung. Der Eindruck dieser Vorgänge war überall ein sehr großer, zumal auch in andern Teilen Deutschlands Zeichen des Umschwungs zu Tage traten. In Bayern fiel (Febr. 1847) das ultramontane Ministerium Abel unter Vorgängen, die das moralische Ansehen der bestehenden Gewalt tief erschütterten. In Baden war schon im Laufe des J. 1847 ein überwiegend liberales Ministerium gebildet worden. Der allenthalben neu erwachte öffentliche Geist gab sich nicht allein in Sänger- und Turnvereinen kund, auch wissenschaftliche Versammlungen, wie die der Germanisten (im Sept. 1846 in Frankfurt a. M., 1847 in Lübeck), trugen durch Besprechung praktischer Fragen dazu bei, das öffentliche Interesse zu erwecken. Der Bundestag, der konsequenterweise dies alles hätte unterdrücken müssen, hatte das Vertrauen zu sich selbst verloren; unthätig ließ man geschehen, was früher für unduldbar galt.

Neben den Bestrebungen, die staatsbürgerliche und konstitutionelle Freiheit fester aufzurichten, regte sich allmählich auch fühlbarer die Tendenz einer nationalen Reform. Auch auf diesem Gebiete hatte Friedrich Wilhelm IV. anregend gewirkt. Schon bald nach seiner Thronbesteigung war er, wiewohl fruchtlos, in Wien und später beim Bundestag für die Reform des Bundes thätig gewesen. Der polit. Bewegung in Deutschland kam die allgemeine europ. Lage mächtig zu Hilfe. Die Schweiz focht ihre innere Krisis gegen die Einreden fast aller