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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1871-88)

Auf Annahme des Monopols im Reichstag war vollends keine Aussicht. Die Neuwahlen vom 27. Okt. 1881 hatten das dem Monopol feindliche Centrum, das mit den Welfen und Polen jetzt über 125 Stimmen verfügte, zur größten Fraktion gemacht; die Fortschrittspartei und die ihr nahestehenden 1880 von den Nationalliberalen abgezweigten Secessionisten hatten zusammen 100 Stimmen, während Nationalliberale, Freikonservative und Konservative zusammen nur über 120 Stimmen verfügten. Mit 273 gegen 43 Stimmen lehnte der Reichstag 15. Juni 1882 das Tabaksmonopol ab.

Besser waren die Aussichten für die Socialreform. Immer weiter drang auch in die liberalen ursprünglich dem Staatssocialismus durchaus abgeneigten Kreise die Überzeugung von der Pflicht des Staates zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen. In der Reichshauptstadt erwuchs seit 1878 unter Führung des Hofpredigers Stöcker, des Gründers der Christlich-socialen Partei (s. d.), eine freilich zu positiven Wahlerfolgen nicht gelangende, aber durch ihre Verbindung mit dem Antisemitismus (s. d.) weite Schichten der Bevölkerung ergreifende Bewegung, die zwar in mancher Hinsicht ungeklärt blieb, auch mit kirchlich-orthodoxen Tendenzen stark verquickt war, aber jedenfalls sich entschieden auf den Boden einer monarchischen Socialreform stellte. Das Centrum rühmte sich von jeher seines Interesses für die Werke christl. Nächstenliebe; aber seiner stark partikularistischen Zusammensetzung nach war ihm doch die Erweiterung der Machtsphäre, die der Reichsgewalt aus der Socialreform zufloß, wenig erwünscht. Daran scheiterte der erste, schon im Frühjahr 1881 dem Reichstag vorgelegte Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes, das sich auf alle gewerblichen Arbeiter mit Ausschluß der Landwirtschaft, Schiffahrt und des Baugewerkes erstrecken sollte. Aber die in Aussicht genommene Reichsversicherungsanstalt und der Staatszuschuß zu den Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer wurde in der Kommissionsberatung durch den Einfluß der Ultramontanen beseitigt, und dies veranlaßte die Reichsregierung, den Entwurf zurückzuziehen. In feierlicher Form aber verkündete sie dann durch die kaiserl. Botschaft vom 17. Nov. 1881 ihren festen Willen zur Durchsetzung der Socialreform und legte ein weites Programm für dieselbe vor, das außer der Unfallversicherung auch die Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens und eine staatliche Fürsorge für Invalidität und Alter umfaßte. Von den 1882 vorgelegten Entwürfen eines Unfallversicherungs- und Krankenkassengesetzes wurde 1883 zuerst das letztere erledigt; es siegte dabei das Princip des Versicherungszwangs. Dann kam 1884 auch das Unfallversicherungsgesetz zu stande, das als Träger der Versicherung die von den Freunden korporativer Neugestaltungen mit großen Hoffnungen begrüßten Berufsgenossenschaften schuf. Kein Staatszuschuß sollte stattfinden, wohl aber eine allgemeine Aufsicht und Leitung durch ein Reichsversicherungsamt. Es folgte 1885 die Ausdehnung der beiden Gesetze auf die Transportgewerbe, 1886 auf die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter, deren Zahl etwa 7 Mill., das Doppelte der bisher versicherten Arbeiter betrug, und auf die in versicherungspflichtigen Betrieben beschäftigten Beamten und Personen des Soldatenstandes.

Weiteres war vorderhand mit dem auf den Wahlen vom 28. Okt. 1884 beruhenden Reichstag nicht zu erreichen. Die Zunahme der Konservativen und Nationalliberalen, die es zusammen auf etwa 157 Stimmen brachten, genügte nicht, um den Oppositionsring der übrigen Parteien zu durchbrechen. Die Regierung setzte zwar 1885 eine neue Erhöhung der Zölle für verschiedene Gegenstände, namentlich landwirtschaftliche Produkte, durch, aber damit war wenig geholfen; denn diese höhern Erträge reichten nicht aus, um, was die Regierung bezweckte, die Matrikularbeiträge der Einzelstaaten abzuschaffen, die ärmern Klassen von Steuern ganz zu befreien, die überbürdeten Kommunen zu entlasten und einzelne Steuerbeträge letztern zu überweisen. Die Regierung ließ sich durch die Ablehnung des Tabaksmonopols 1882 nicht abschrecken, dem Reichstag 22. Febr. 1886 einen Gesetzentwurf über Einführung des Branntweinmonopols vorzulegen, von dem sie sich eine jährliche Nettoeinnahme von etwa 300 Mill. M. versprach. Aber unvermindert war im Reichstag die Abneigung gegen Monopole überhaupt und die Besorgnis, daß durch das Monopol die Reichsgewalt finanziell zu unabhängig vom Parlament werden würde. Die Vorlage wurde 27. März abgelehnt, und als die Regierung gleich darauf eine Branntweinsteuervorlage einbrachte, wurde 26. Juni auch diese verworfen und nur die Erhöhung der Zuckerrübensteuer genehmigt. Obgleich daher infolge dieser fortwährenden Ablehnungen der ergiebigsten Einnahmequellen die finanzielle Lage des Reichs sich verschlechterte, die Matrikularbeiträge erhöht werden mußten und eine neue Anleihe nicht zu umgehen war, so verzichtete doch die Regierung darauf, dieser Reichstagsmehrheit eine neue Vorlage über Steuerreform zu machen. Während die dringendste Notwendigkeit zur Fortführung der Socialreform, die Erschließung reichlicher Mittel, unbefriedigt blieb, wuchs im stillen trotz strengster Anwendung des 1884 und 1886 erneuerten Socialistengesetzes die socialdemokratische Bewegung, über die größern Städte wurde der kleine Belagerungszustand verhängt, Prozesse angestrengt gegen hervorragende Führer, die Streikbewegung streng überwacht. Aber bei den Reichstagswahlen von 1884 stieg die Zahl der socialistischen Abgeordneten von 13 auf 24, die Stimmenzahl auf 550000, die Parteiorganisation wurde höchst geschickt und wirksam ausgebildet. Das Niederwaldattentat von 1883 deckte das Treiben einer anarchistischen Gruppe auf.

Ein Lieblingsgedanke der Konservativen und auch des Centrums war es, die Innungen zu einflußreichen lebenskräftigen Korporationen umzugestalten. Die Grundlage der Bewegung wurde das Innungsgesetz vom 18. Juli 1881, das den frei sich bildenden Innungen eine Reihe von Rechten zuwies zur Förderung ihrer gewerblichen Interessen und zur Hebung des Standesbewußtseins. Durch das Gesetz vom 18. Dez. 1884 wurde den Innungsmeistern das ausschließliche Recht zur Haltung von Lehrlingen zugesprochen, und 1887 wurde den nicht den Innungen angehörenden Handwerkern die Beitragspflicht zu den dem Interesse des Gewerbes dienenden Einrichtungen der Innungen auferlegt.

Während so ganz neue wirtschaftliche Gedanken die Entwicklung zu beherrschen begannen, war noch eine Forderung einer frühern Periode unerfüllt geblieben. Die wirtschaftliche Einheit Deutschlands war unvollendet, solange Hamburg und Bremen außerhalb des Zollgebietes sich befanden. Der Reichskanzler betrieb seit 1879 energisch die Vereinigung,