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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Eisenbahnpolitik
mischtes Privat- und Staatsbahnsystem. Die Staa-
ten haben dabei die Privatbauthätigkeit vielfach
unterstützt durch Zuschüsse zu den Baukapitalien,
durch Übernahme von Zinsgarantien für die zum
Bau verwendeten Kapitalien, durch unentgeltliche
Überlassung von im Staatsbesitz befindlichen Flächen,
Gewährung von Steuerfreiheit u. s. w. Die Ver-
bindung von Staatseigentum und Privatbetrieb
der Eisenbahnen ist in der Form der Verpachtung
von Staatseisenbahnen an Privatunternehmer zur
Anwendung gebracht, wie z. B. in Holland (s. Nieder-
ländische Eisenbahnen) und in Italien (s. Italieni-
sche Eisenbahnen). Vgl. Denkschrift zu dem ersten
Verstaatlichungsgesetz in Preusicn vom 20. Dez.
1879 (Drucksachen des Hauses der Abgeordneten
1879/80, Nr. 5).
Die Frage, ob Privat- oder Staatsbahnen vor-
zuziehen seien, ist bestritten. Die Gegner der Staats-
bahnen berufen sich auf die allgemeinen Nachteile
staatlicher Aetrieve und behaupten, der Staat baue
und verwalte teurer als Privatunternehmer. Durch
die Vereinigung der Eisenbahnen in der Hand des
Staates würde die belebende Privatthätigkeit lahm
gelegt und die Macht des Staates bedenklich er-
weitert; es liege die Gefahr vor, dah die wichtigsten
Verkehrsfragen nicht im allgemein wirtschaftlichen
Interesse des Landes, sondern nach einseitigen bu-
reaukratischen Rücksichten entschieden würden. Auch
erscheine der Staatskredit gefährdet, wenn von dem
Staate solch ungeheure Summen, wie sie Bau und
Betrieb von Eisenbahnen erforderten, aufgewendet
würden und das Gleichgewicht des Staatshaushalts
von den schwankenden Vcrkchrseinnahmen der Eisen-
bahnen abhängig sei. Demgegenüber wird von den
Verteidigern der Staatsbahnen darauf hingewie-
sen, daß eine wirtschaftliche Verwendung des Na-
tionalvermögens, das durch die Anlaye und den
Betrieb von Eisenbahnen in so großartigem Maße
in Anspruch genommen werde, nur bei dem Staats-
eisenbahnsystem möglich sei. Die Verwaltung der
Eisenbahnen, deren gewinnwirtschaftliche Inter-
essen mit den Interessen der Gemeinwirtschaft viel-
fach, insbesondere auf dein wichtigen Gebiete des
Tarifwesens, in Widerspruch ständen, könne nie-
mals von auf Erwerb bedachten Privatgefellschaf-
ten, sondern nur allein vom Staate in einer dem
Gemeinwohl entsprechenden Weise geleitet werden.
Auch ließe sich die einheitliche staatliche Betriebs-
verwaltung dilliger gestalten, als dies bei der großen
Wenn gleichwohl die in den Kammerucrhand-
lungen und in der Presse hervortretenden Meinun-
gen über die Vorzüge des Privat- und des Etaats-
bahnsystems immer noch geteilt sind, so gewinnt
doch bei den maßgebenden Stellen aller Kultur-
länder immer mehr die Ansicht die Oberhand, daß
es dem öffentlichen Interesse am besten entspricht,
wenn der Staat mindestens alle wichtigern Bahnen
selbst besitzt und auch selbst betreibt. Soweit die be-
sondern Verhältnisse der einzelnen Länder es aus-
führbar erscheinen lassen, wird deshalb auch überall
an die Verwirklichung der Idee, den Bau und Be-
trieb der Eisenbahnen dem Staat zu übertragen,
geschritten. Am entschiedensten sind in dieser Be-
ziehung die deutschen Staaten vorgegangen. Der
Versuch, an Stelle der Einzelstaaten das Deutsche
Reich als solches zum Träger der E. zu machen und
es zunächst in den Besitz eines einflußreichen Eisen-
bahnnetzes, der preuh. Staatsbahnen, zu setzen,
mißglückte. Das preuß. Gesetz vom 4. Juni 1876
wegen Übertragung des Eigentums und sonstiger
Rechte des Staates an Eisenbahnen auf das Deutsche
Reich ist bisher, infolge des Widerspruchs der
deutschen Mittelstaaten, nicht zur Ausführung ge-
kommen. Preußen sah sich daher genötigt, allein
vorzugehen. Seit 1879/80 ist das reine Staatsbahn-
system durch den. inzwischen bewirkten Ankauf fast
sämtlicher wichtigern Privatbahnen durch den
Staat sichergestellt (s. Preußische Eisenbahnen): in
Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden
gehören die vorhandenen Eisenbahnen fast aus-
schließlich den betreffenden Staaten. <S. Deutsche
Eisenbahnen.) Der österreichische Staat, der im
Dränge der Finanznot in den fünfziger Jahren sei-
nen Eisenbahnbesitz verkauft hatte, sucht wieder in
den Besitz der Eisenbahnen zu kommen und hat be-
reits eine Reihe wichtiger Linien angekauft und in
Betrieb genommen. Ungarn bedurfteeinerselbstän-
digen nationalen Tarifpolitik für die Beförderung
seiner landwirtschaftlichen Massenprodukte, und da
eine solche mit den Privatbahnen nicht durchzuführen
war, so wurden letztere für den Staat erworben und
befindet sich dort jetzt der größte Teil der Eisenbahnen
in den Händen des Staates. (S. Österreichisch-Un-
garische Eisenbahnen.) In Dänemark sind nur
noch wenige Bahnen im Privatbesitz. (S. Dänische
Eisenbahnen.) In Norwegen sind die Bahnen
von Anfang an fast nur vom Staat gebaut und be-
trieben worden, und in Schweden gehört ein großer
Teil der vorhandenen Eisenbahnen dem Staate.
(S. Norwegische Eisenbahnen und schwedische
Eisenbahnen.) In den Niederlanden sind die
zum größten Teile dem Staate gehörenden Linien
an zwei Privatgesellschaften, die Gesellschaft für
den Betrieb Niederländischer Staatsbahnen und
die Holländische Eisenbahngesellschaft, verpachtet.
Durch das Gesetz vom 22. Juli 1890 ist ferner die
Verstaatlichung der niederländ. Rheinbahn geneh-
! migt, und neuen mit den Vetriebsgesellschaften ab-
! geschlossenen Verträgen, durch welche die Regierung
sich weitgehende Befugnisse bezüglich der Einwir-
kung auf die Gestaltung der Tarife und Fahrplüne
vorbehalten hat, die Bestätigung erteilt worden.
(S. Niederländische Eisendahnen.) Ebenso gehört
in Belgien ein großer Teil des Eisenbahnnetzes
dem Staat und wird von demselben betrieben.
(S. Belgische Eisenbahnen.) In der Schweiz be-
steht einstweilen noch das reine Privatbahnsystem,
dessen Mängel sich aber im Laufe der Zeit fo fühl-
bar gemacht haben, dah schon feit Jahren der Er-
werb aller Bahnen für den Bund erörtert wird.
Nachdem der 1887 versuchte Ankauf der Nord-
ostbahn vereitelt wurde, hat die Bundesregierung
einen neuen Weg bcfchritten und die Aktien eini-
ger größerer Privatbahnen (Iura-Simplon- und
Centraldahn) erworben, um sich maßgebenden Ein-
fluß in der Verwaltung dieser Bahnen zu sichern
und den Erwerb derselben durch den Staat vor-
zubereiten. (S. Schweizerische Eisenbahnen.) In
Italien befindet sich die überwiegende Mehr-
zahl der Bahnlinien im Besitz des Staates. Die-
selben sind, wie schon bemerkt, in ähnlicher Weise,
wie es in Holland geschehen, an Privatunternehmer
verpachtet. (S. Italienische Eisenbahnen.) InNuß -
land, wo für die Eisenbahnen im Privatbesitz vom
Staat sehr hohe Beihilfen gezahlt werden müssen,
wnrde in neuester Zeit ein ausgedehntes Netz von
Privatbahnen für den Staat erworben, auch wurden