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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Englische Verfassung

versammlung für das ganze Reich ist wahrscheinlich nie zusammengetreten. In den Rat, der den Reichsangelegenheiten vorstand (Witena-gemot), wurden nur die Großen des Landes berufen: die Prälaten, die Ealdormen und die Thegns (d. i. Ministri, Leute im unmittelbaren Dienste des Königs), doch erscheinen die vereinigten Folkmots bei besonders feierlichen Gelegenheiten, wie bei Königswahlen, nicht mitratend, aber Beifall oder Mißfallen äußernd. Der König steht über dem Volke als oberster Heerführer, er greift durch seine Sheriffs in die Gerichtsbarkeit der Grafschaftsgerichte und der kleinern Gerichte ein. Als Hüter des Königsfriedens erwirbt er die oberste Polizeigewalt im Lande, als Haupt der Kirche steht er über der geistlichen Hierarchie. Seine Würde ist nicht erblich; er wird vom Witena-gemot erwählt (doch sind nur die Glieder der herrschenden Familie wählbar) und kann von derselben Körperschaft abgesetzt werden. Er erläßt Gesetze, aber nur unter Beirat des Witena-gemot. Daß diese Beratung als wesentlich angesehen wurde, geht aus der Form der Gesetze hervor (vgl. die Beispiele in Stubbs Constitutional History, Bd. 1, 5. Aufl., Lond. 1891). Wilhelm von der Normandie hat, nachdem er (1066) in der Schlacht bei Hastings das engl. Königreich erobert hatte, in den staatsrechtlichen Einrichtungen des Landes wenig geändert, sondern nur einer natürlichen Entwicklung durch die Macht seiner Persönlichkeit und seine klare Einsicht in die Bedürfnisse des Landes einen frischen Anstoß gegeben. Die Zunahme der Königsmacht war eine natürliche Folge der Vereinigung des engl. Reichs; mit der Zunahme dieser Macht geht parallel die Umwandlung des Volksstaates in den lehnsrechtlichen Staat. Bereits unter den angelsächs. Königen hatte die Entwicklung begonnen, die die staatsrechtlichen Befugnisse und Pflichten des Einzelnen mit seinem Verhältnis zu Grund und Boden in Beziehung brachte, und dem König, der früher nur Herrscher über sein Volk war, die Stellung eines obersten Territorial- und Lehnsherrn gab. Die umfangreichen Konfiskationen Wilhelms und die Zuweisungen von Grund und Boden an seine normann. Gefolgsleute beschleunigten diese Entwicklung; aber Wilhelm und seine Nachfolger verstanden es andererseits dadurch, daß sie die Wirkung der Afterbelehnung einschränkten und das Verhältnis der Afterbelehnten zum obersten Lehnsherrn in den Vordergrund brachten, der weitern Überwucherung lehnsrechtlicher Grundsätze Einhalt zu gebieten. Die Entstehung kleinerer Territorialherrschaften mit polit. Befugnissen wurde dadurch verhindert und der unmittelbare Einfluß des Landesherrn im ganzen Reiche gesichert. Ein Gesetz Eduards Ⅰ. hat die Afterbelehnung überhaupt verboten. Die Centralisierung der Staatsgewalt besteht von nun an dauernd, die persönliche Macht des Königs nimmt bereits unter den normann. Königen wieder ab. Dann traten die folgenden Elemente in den Vordergrund.

Ⅰ. Aus dem Weisen-Männer-Rat, der zunächst in einen königl. Rat (Curia Regis) verwandelt wurde, scheiden sich aus a. der Rat der Großgrundbesitzer und Großwürdenträger (Magnum Concilium), b. der engere Staatsrat (Perpetuum Concilium, später Privy Council genannt), c. gewisse Behörden und Gerichtshöfe. Die königl. Gewalt wird nur unter Zuziehung einer dieser beratenden Körperschaften oder durch diese nach fester Geschäftspraxis handelnden Behörden und Gerichtshöfe ausgeübt.

Ⅱ. Der königl. Rat erweitert sich andererseits durch Zuziehung der Vertreter der kleinern Kronvasallen, der Städte und der Geistlichkeit zu einer allgemeinen Landesversammlung (Commune Concilium), die später in drei getrennte Versammlungen zerfällt, unter denen zwei mit dem Souverän zusammen das heutige Parlament bilden.

Ⅲ. Die Einnahmen des Königs, die ursprünglich nur aus den Erträgnissen der Kronländer und lehnsrechtlichen Gefallen bestehen, werden durch Besteuerung erweitert, ursprünglich nur mit der Einwilligung der besonders Besteuerten; später wird die Einwilligung der Landesversammlung oder der Reichsstände nötig. Hieraus entwickelt sich auch eine Kontrolle über die Ausgaben und schließlich eine Trennung des königl. Haushalts von dem Staatshaushalt.

Ⅳ. Die Organisation der kleinern Landesabteilungen, die die Engländer von ihrer german. Heimatsstätte mitgebracht hatten, geht nie verloren. Sie erhält hauptsächlich durch das Institut der Friedensrichter (unter Eduard Ⅲ.) neue Bedeutung.

Es ist demnach die Entwicklung der folgenden Körperschaften und Einrichtungen zu schildern:

Ⅰ. der Staatsbehörden:

a. des großen Staatsrats (derselbe wird später Pairskammer, s. Lords, House of);

b. des engern Staatsrats (Privy Council [s. S. 146 a], aus ihm scheidet sich später wieder das Cabinet [s. d.] aus);

c. der Staatsämter und Gerichtshöfe;

Ⅱ. des Parlaments;

Ⅲ. des Finanz- und Steuerwesens;

Ⅳ. der Grafschaften und Gemeinden.

Ⅰ. Staatsbehörden: a. Großer Staatsrat. Die Curia Regis ist der Rat, der unter den normann. Königen an die Stelle des Witena-gemot trat. In dieser Versammlung sollen erscheinen 1) die Prälaten und hohen Staats- und Hofbeamten, 2) der Theorie nach sämtliche unmittelbare Lehnsmannen des Königs (Barons), doch wurden thatsächlich nur die besonders hervorragenden (Barones majores) berufen. Dieser Rat beriet den König und war zugleich der oberste Gerichtshof. Die gerichtlichen Funktionen und ebenso die Kontrolle der Staatsfinanzen wurde aber allmählich einzelnen Mitgliedern ständig übergeben und der Name Curia Regis in einem engern Sinne dem Kollegium beigelegt, das mit diesen Geschäften betraut war. Die größere Körperschaft nimmt dann den Namen Großer Rat (Magnum Concilium) an; auch aus diesem scheidet sich später wieder ein engerer Staatsrat aus (s. Ⅰb), und andererseits erweitert er sich auch zu der großen Landesversammlung (Commune Concilium, s. Ⅱ). Daneben aber bleibt er als Magnum Concilium bestehen und dient in dieser Eigenschaft 1) als Gerichtshof, 2) als Ratsversammlung des Königs. Das Magnum Concilium als Gerichtshof heißt auch: Parlament, curia in parliamento. Der Sprachgebrauch, wonach nur die aus den drei Reichsständen zusammengesetzte Versammlung Parliamentum genannt wurde, entstand erst später. Noch 1399, als die Commons bereits längst als selbständiges Glied der Landesversammlung tagten, werden die gerichtlichen Entscheidungen des Parlaments in einer Erklärung der Commons als ausschließlich zur Zuständigkeit des Könige und der Lords gehörend bezeichnet, und der Erzbischof von Canterbury antwortet im Namen des Königs, daß der König und die Lords jederzeit die Gerichtsbarkeit des Parlaments gehabt haben