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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1815-30)

lich 5. Sept. 1816 zur Auflösung der Deputiertenkammer. Die Liberalen der neuen gemäßigtern Kammern erlangten ein Wahlgesetz vom 5. Febr. 1817, das direkte Wahlen in der Departementalhauptstadt vorschrieb und damit den Einfluß der royalistischen Großgrundbesitzer beseitigte, konnten aber die Aufhebung der unkonstitutionellen Ausnahmegesetze nicht durchsetzen. Die Unruhen in Grenoble und in Lyon und eine im Juli 1818 entdeckte Verschwörung der Ultras zum Umstürze der Verfassung brachten eine wirkliche Annäherung des Ministeriums an die Liberalen und Patrioten zu stande. Auf dem Aachener Kongreß (s. d.) bewirkte die Regierung bei den Verbündeten den Beschluß vom 9. Okt. 1818, der F. noch im Laufe des Jahres von sämtlichen fremden Truppen befreite. Am 12. Nov. 1818 trat dann auch F. dem Friedensbunde der europ. Hauptmächte bei. Der Herzog von Richelieu hatte jedoch durch seine Verhandlungen zu Aachen, durch die Verweigerung einer weitern Entwicklung des konstitutionellen Systems im Ministerium Spaltung und bei den Liberalen der Kammer, die sich bei jeder neuen Teilwahl verstärkten, Unzufriedenheit hervorgerufen, sodaß er mit seinen Anhängern im Dezember das Amt niederlegen mußte. Der König ernannte 28. Dez. ein neues Ministerium, worin der Marquis Dessolles den Vorsitz führte. Dieses liberale Ministerium unterlag jedoch bald den Ultras beider Parteien. Am 19. Nov. 1819 wurde Decazes erster Minister, und für Dessolles, Saint-Cyr und Louis traten Pasquier, Latour-Maubourg und Roy ein. Der gemäßigte Royalismus, den das neue Ministerium vertrat, zog ihm sogleich den heftigsten Widerstand der äußersten Rechten und Linken in der Kammer zu. In der That hatten sich auch alle liberalen Männer über die Handhabung der Gesetze und die schreiendsten Verletzungen der Charte zu beklagen. Erst 9. Juni 1819 war die Preßfreiheit wieder eingeführt worden, und dennoch dauerten die Censur und die Verfolgungen gegen die Schriftsteller fort. Um das Zuströmen radikaler Elemente in die Kammer zu hindern, suchte das Ministerium Decazes durch ein neues Wahlgesetz der Grundaristokratie wieder überwiegenden Einfluß auf die Wahlen zu verschaffen. Gerade über dieses neue Wahlgesetz entbrannten in der Kammer die heftigsten Parteikämpfe. Die Partei der Gemäßigten schien die Mehrzahl zu bilden, als die Ermordung des Herzogs von Berry 13. Febr. 1820 erfolgte und den Ultras die Oberhand verschaffte. Nun lenkte sich die ganze Wut der Royalisten auf Decazes, dessen Mäßigung als die Ursache jener Frevelthat bezeichnet wurde. Der Minister dankte 18. Febr. 1820 ab. An seine Stelle trat als Präsident des Ministerrats zum zweitenmal der Herzog von Richelieu, und Graf Siméon wurde Minister des Innern. Unter heftigstem Widerstande ward nun ein Ausnahmegesetz (vom 26. März 1820) angenommen, wonach jeder des Hochverrats Verdächtige auf Befehl dreier Minister verhaftet werden konnte und spätestens erst nach 3 Monaten vor Gericht gestellt zu werden brauchte. Heftiger noch entbrannte der Parteikampf über ein zweites Ausnahmegesetz, wodurch die Censur wieder eingeführt wurde. Die Annahme dieses Gesetzes, das, wie das erste, nur bis zu Ende der Session von 1820 gelten sollte, brachte eine gänzliche Veränderung in der Presse hervor. Durch das neue Wahlgesetz vom 29. Juni 1820 wurde die Zahl der Deputierten von 258 auf 430 vermehrt; die großen Güterbesitzer erhielten mit 172 Mandaten einen überwiegenden Einfluß und bestimmten die Mehrheit. Die erste Folge dieses Gesetzes war, daß schon 1820 unter 220 neu erwählten Deputierten nur 30 Liberale sich befanden. Das aristokratisch-monarchische Regierungssystem hatte über den bürgerlichen Liberalismus gesiegt, und die ultraroyalistische Partei drängte immer mehr nach rechts. Es half der Regierung nichts, daß sie die Wortführer der rechten Seite, Villèle und Corbière, zu Unterstaatssekretären mit Stimmrecht ernannte, denn noch kurz vor dem Schlusse der Kammern gaben beide ihre Entlassung, um an der Spitze der Ultras das Ministerium desto erfolgreicher angreifen zu können. So mußte das Kabinett Richelieu 17. Dez. 1821 seine Entlassung einreichen. Das neue (sechste) Ministerium, dessen Seele der Finanzminister Villèle war, wurde aus den strengsten Royalisten gewählt. Der Ministerwechsel, der die Entlassung der liberalen Beamten und die Überlassung des gesamten Unterrichtswesens an den Klerus zur Folge hatte, verursachte große Aufregung nicht nur unter der liberalen Partei, sondern auch im Heere. Man entdeckte am Ende 1821 in der Kriegsschule zu Saumur eine Verschwörung zu Gunsten des jungen Napoleon und 1822 mehrere gleichzeitige Anschläge zum Aufstande der Garnisonen von Belfort, Saumur, Neubreisach und Metz. Auch in Grenoble, Bordeaux, Rennes, La Rochelle und Nantes gab es Unruhen.

Sehr stürmisch verlief die Kammersession des J. 1823, die der König 28. Jan. mit einer Rede eröffnete, in der er den Marsch von 100000 Franzosen gegen Spanien ankündigte, um dort die absolute Gewalt wiederherzustellen. Bei Beratung der Kreditvorlage von 100 Mill. Frs. sprach sich der Abgeordnete Manuel in heftigster Weise gegen den Krieg aus und wurde, als er unter anderm aus die Hinrichtung Ludwigs XVI. hinwies, von den Ultraroyalisten mit Gewalt aus der Kammer entfernt, worauf die Linke bis auf einige Mitglieder austrat und das Gesetz angenommen wurde. Das franz. Heer unter dem Herzog von Angoulême hatte schon 7. April die Bidassoa überschritten und machte 1. Okt. in Cadiz der Herrschaft der span. Konstitution und der Cortes ein Ende. (S. Spanien.)

Um die Liberalen vollends zu verdrängen und andererseits sich vor den Ultras zu schützen, löste Villèle die Kammer 24. Dez. 1823 auf. Durch rücksichtslose Wahlbeherrschung erreichte er seinen Zweck. Die Anzahl der liberalen Mitglieder betrug, als 23. März 1824 das neue Parlament zusammentrat, nur noch etwa 17. Aber auch die Reihen der extremen Reaktionäre waren gelichtet. Die Charte war gerettet, aber Villèle hielt doch für gut, sie etwas in reaktionärem Sinne zuzustutzen. Als ihm die neuen Deputierten einen Nachtragskredit von 107 Mill. für den span. Krieg anstandslos zugestanden hatten, wünschte er eine so willfährige Kammer möglichst lange beisammen zu haben, und setzte 23. März 1824 durch, daß sämtliche Mitglieder der Kammer auf 7 Jahre (Septennalität) gewählt und nach deren Verlauf die ganze Kammer erneuert werden sollte. Nicht lange darauf, 16. Sept. 1824, starb Ludwig XVIII.

Sein Bruder, der Graf von Artois, bestieg als Karl X. den franz. Thron. Er erließ eine Amnestie für polit. Verbrecher und hob sogar 29. Sept. die Censur der Zeitungen auf. Bald aber trat die Re-^[folgende Seite]