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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1887-94)

Das waren unleugbare Erfolge der Republik und ihrer opportunistischen Regierung. Diese erweckten denn auch sofort aufs neue die erbitterte Gegnerschaft der Radikalen. Ihre Unternehmungen blieben jedoch zunächst erfolglos, und zwar weil jetzt auch die Konservativen die Regierung stützten, die einen autonomen Schutzzolltarif vorgelegt hatte, worin jene ihre meist landwirtschaftlichen Interessen gewahrt sahen. Die Kammer entschied sich für die Doppelform eines Maximal- und eines Minimaltarifs, von denen der letztere jenen Staaten zu gute kommen sollte, die ihrerseits F. Begünstigungen vor andern gewähren. Da aber auch der Minimaltarif sehr hohe Sätze aufwies, so geriet die Republik im Laufe des J. 1892 in eine handelspolitisch immer mehr isolierte Stellung. Solange nun der neue Tarif nicht auch vom Senat genehmigt war, hatten die Konservativen keinerlei Grund, eine Veränderung im Ministerium herbeizuführen oder zuzulassen, und stimmten deshalb die Radikalen nieder. Vollends als dieselben im Dez. 1891 die Kündigung des Konkordates forderten, welchen Antrag die Regierung für unnütz und schädlich zugleich erklärte. So war das Kabinett neuerdings befestigt. Aber dennoch waren seine Tage gezählt. Ein im Februar vorgelegtes Genossenschaftsgesetz verstimmte die Konservativen, die darin eine Waffe der Regierung gegen die religiösen Körperschaften erblickten. Als dann das Ministerium dies öffentlich in Abrede stellte, erregte es andererseits den Zorn der Radikalen, die es des Einverständnisses mit dem Papste beschuldigten. So blieb, von rechts und links angefochten, eine von der Regierung gebilligte Tagesordnung mit 212 gegen 304 Stimmen in der Minderheit, und Freycinet nahm 19. Febr. seine Entlassung. Da aber gerade zur selben Zeit eine päpstl. Encyklika (vom 16. Febr.) alle Franzosen aufforderte, die herrschende Regierungsform anzuerkennen und die Regierung zu unterstützen, und da Carnot ein radikales Kabinett aus Rücksicht für den Zaren nicht berufen wollte, wurde das System nicht geändert. Die Präsidentschaft ging auf Loubet über, Freycinet behielt das Kriegsportefeuille, doch Constans trat aus. Die päpstl. Encyklika hatte zur weitern Folge, daß etwa 40 monarchistische Deputierte, sog. Ralliierte, unter Führung des Abgeordneten Piou die Gruppe der Konstitutionellen Rechten (s. d.) bildeten und sich mit Aufgebung ihres polit. Ideals auf den Boden der bestehenden Verfassung stellten. Daß sich im Mai auch der "Verein des christl. Frankreichs" auflöste, der bis dahin den Mittelpunkt der antirepublikanischen Elemente gebildet hatte, hatten die Machthaber ebenfalls den päpstl. Erlassen zu verdanken.

In den Monaten Februar, März und April wurden die Bewohner von Paris durch häufige Dynamitattentate der Anarchisten beunruhigt. Nur einen der Verbrecher, Ravachol, gelang es zunächst zu ergreifen. Er wurde 11. Juli hingerichtet. In ihren Grundfesten wurde die Republik jedoch erschüttert durch eine Katastrophe, die am Schluß des Jahres über sie hereinbrach. Nach 18monatiger Voruntersuchung beschloß der Ministerrat 15. Nov. das Kriminalverfahren gegen die Leiter des Panamakanalunternehmens eröffnen zu lassen, und wenige Tage darauf (21. Nov.) beschuldigte der Boulangist Delahaye in der Kammer 150 Deputierte, darunter frühere Minister und hohe Beamte, daß sie ihr Votum zu Gunsten der Pamamaanleihe für hohe Summen hätten erkaufen lassen, und beantragte die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Seinem Antrag wurde stattgegeben und Brisson zum Vorsitzenden der aus 33 Mitgliedern bestehenden Kommission ernannt. Die allgemeine Beunruhigung wurde noch erhöht durch den Tod des Bankiers Reinach (20. Nov.), der die Finanzoperationen der Panamagesellschaft zum größten Teil geleitet hatte. Man behauptete, daß er sich vergiftet habe, um sich der Verantwortung zu entziehen, oder gar daß er noch lebe und seine Beerdigung nur ein Scheinmanöver gewesen sei. Am 28. Nov. wurde in der Kammer die Exhumierung der Leiche verlangt, und als das Haus trotz des Widerspruchs des Justizministers Ricard demgemäß beschloß, reichte das Ministerium seine Entlassung ein. Das neue Kabinett, das unter Ribot 6. Dez. zusammentrat, umfaßte alle Mitglieder des alten mit Ausnahme von Ricard, an dessen Stelle Bourgeois Justizminister wurde, und Roche, für den Sarrien den Handel übernahm. Jedoch nur wenige Tage darauf (13. Dez.) mußte der Finanzminister Rouvier, der nicht leugnen konnte, daß er zu Wahlzwecken Gelder von der Panamagesellschaft angenommen hatte, dem Senator Tirard seinen Platz räumen. Neue Angriffe, die sich namentlich gegen Loubet, Freycinet und Burdeau richteten, zwangen auch das so rekonstruierte Ministerium, 10. Jan. 1893 seine Entlassung einzureichen. In dem neuen "purifizierten" Kabinett, das Ribot am folgenden Tage bildete, fanden sie keine Stelle. Als 10. Jan. die Kammer wieder zusammentrat, wurde der langjährige Präsident Floquet, der ebenfalls seine Beteiligung an der Verteilung der Panamagelder an die Presse hatte zugeben müssen, nicht wiedergewählt; an seine Stelle trat Casimir-Perier. Ebenfalls 10. Jan. begann vor dem Pariser Zuchtpolizeigericht der Prozeß gegen die Verwaltungsräte der Panamagesellschaft, die beiden Lesseps, Fontane, Cottu und Eiffel, die 9. Febr. wegen Betrugs und Vertrauensmißbrauchs zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, doch wurde das Urteil wegen Verjährung durch den Kassationshof im Juni aufgehoben. Weit sensationeller gestaltete sich ein zweiter Panamaprozeß, der 8. bis 21. März gegen die oben genannten Direktoren der Panamagesellschaft als Bestecher, und den frühern Minister Baïhaut, einige Senatoren und Deputierte als Bestochene vor dem Geschworenengericht in Paris geführt wurde. Die meisten der Angeklagten wurden allerdings freigesprochen, doch wurden Lesseps, Blondin und Baïhaut verurteilt, und zwar zu 1, 2 und 5 Jahren Gefängnis.

Durch dieses Urteil schien der Panamaskandal in einer für das herrschende parlamentarisch-republikanische System möglichst günstigen Weise beigelegt zu sein, und die Kammer, die, solange diese Angelegenheit im Vordergrunde gestanden, die Regierung energisch unterstützt hatte, entzog ihr plötzlich dieses Vertrauen. Der Senat hatte die von der Kammer beschlossene Verbindung der Reform der Getränkesteuer mit dem Budget abgelehnt, das Ministerium stellte sich auf die Seite des Senats und nahm, da es 30. März mit seinem Antrag, den Senatsbeschluß zu acceptieren, in der Minderheit blieb, seine Entlassung. An Stelle Ribots übernahm Dupuy 4. April das Präsidium, und ihm bewilligte die Kammer 28. April, was sie dem vorigen Ministerium versagt hatte, sodaß das Budget mit vier Monaten Verspätung endlich zu stande kam.