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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte seit 1894)

Ein Handelsvertrag mit Rußland, in dem F. die Zölle auf Naphthaprodukte (Petroleum) auf die Hälfte des bisherigen Betrages herabsetzte und von Rußland wesentliche Zollermäßigungen für feinere Industrieerzeugnisse und Ackerbaugeräte erlangte, legte von neuem Zeugnis ab von den freundschaftlichen Beziehungen, die sich zwischen beiden Mächten entwickelt hatten. Grenzstreitigkeiten mit Siam spitzten sich im Juli zu einem Konflikt zu, als den Menam hinauffahrende franz. Kanonenboote von den Siamesen beschossen wurden. F. forderte 20. Juli in einem Ultimatum Anerkennung des Mekong als Grenze und besetzte, als Siam mit der Annahme zögerte, Tschantabon. Erst 3. Okt. kam ein Vertrag zu stande, worin Siam auf das linke Mekongufer verzichtete.

Inzwischen fanden 20. Aug. die Neuwahlen zur Deputiertenkammer statt und ergaben mit den Stichwahlen 3. Sept. wieder eine Verstärkung der Republikaner, aber auch der Socialisten, während die Hoffnungen der Ralliierten sich nicht erfüllten. Es wurden gewählt 409 Republikaner und Radikale, 79 socialistische Radikale und Socialisten, 29 Ralliierte und 64 Konservative. Kurz vorher (16. und 17. Aug.) war es zwischen franz. und ital. Arbeitern in Aiguesmortes zu blutigen Zusammenstößen gekommen, wobei eine Anzahl Italiener getötet und verwundet worden waren, ein Ereignis, das nicht dazu beitrug, das ohnehin gespannte Verhältnis zu Italien zu verbessern. Dagegen feierte die Republik einen großen Triumph, als Rußland endlich den Kronstadter Flottenbesuch erwiderte. Am 13. Okt. traf ein auf der Heimreise von Amerika begriffenes russ. Geschwader unter Admiral Avellan im Hafen von Toulon ein, wo es bis 29. Okt. verweilte. Auf das überschwenglichste wurden die russ. Offiziere und Seeleute gefeiert, namentlich auch in Paris, wohin sich ein Teil zum Besuch begab; ein Taumel der Begeisterung ergriff die franz. Bevölkerung und erreichte seinen Gipfel, als Kaiser Alexander in einem Telegramm an Carnot von den "Banden, welche unsere beiden Länder vereinigen", sprach, in welchen Worten man die Existenz eines franko-russ. Bündnisses bestätigt zu finden glaubte.

Dieser Erfolg hinderte aber nicht, daß das Ministerium Dupuy bald darauf bei dem Versuch, sich einheitlicher zu gestalten und seine radikalen Mitglieder abzustoßen, zu Falle kam (25. Nov.). Erst nach langem Bemühen kam 3. Dez. ein neues Kabinett mit Ausschluß der Radikalen unter dem bisherigen Kammerpräsidenten Casimir-Perier zu stande, der zugleich das Auswärtige übernahm. Kammerpräsident an seiner Stelle wurde Dupuy, der gleich darauf Gelegenheit hatte, sich in dieser Stellung durch seine Kaltblütigkeit auszuzeichnen. In der Sitzung der Deputiertenkammer, 9. Dez., wurde von der Galerie eine Dynamitbombe in den Saal geschleudert, die über 20 Abgeordnete verletzte. Der Thäter, der Anarchist Vaillant, wurde alsbald ergriffen. Dies Attentat rief eine große Erbitterung gegen die Anarchisten hervor, und bereits 11. Dez. wurde eine Preßgesetznovelle in der Kammer angenommen, die die Verherrlichung von Verbrechen und auch die indirekte Aufreizung dazu unter Strafe stellte, und 15. Dez. drei weitere Gesetzentwürfe über den Verkehr mit Sprengstoffen, über Vereinigungen mit verbrecherischen Zwecken und wegen Bewilligung eines Kredits zur Verstärkung der Polizei. Trotzdem fanden nach der Hinrichtung Vaillants (5. Febr. 1894) während der nächsten Monate noch mehrere anarchistische Bombenanschläge in Paris statt. Aber Casimir-Perier fuhr fort, nachdem durch die Konversion der 4½ prozentigen Rente in 3½ prozentige auch das Gleichgewicht im Budget hergestellt worden war, die Regierung mit fester Hand zu führen, und unterstützt von der Rechten, einen mehr konservativen Zug in die Politik zu bringen.

Dies sollte sich auch in dem Verhältnis zur Kirche geltend machen. Der Kultusminister Spuller erklärte 3. März in der Kammer, daß die Regierung in religiösen Fragen das Princip der Toleranz vertrete und dem "neuen Geist" der Versöhnung Rechnung tragen wolle. Aber die dadurch nur gesteigerten Machtgelüste der Kirche machten diese Versöhnlichkeit bald zu Schanden. Verordnungen betreffend die Rechnunglegung über die Kirchengüter fanden bei vielen Bischöfen und Geistlichen heftigen Widerstand, der durch ein, vom Papst allerdings später desavouiertes Rundschreiben des päpstlichen Nuntius Ferrata noch bestärkt wurde. Die Regierung konnte nicht umhin, zur Wahrung der staatlichen Autorität gegen mehrere renitente Bischöfe, namentlich den Erzbischof von Lyon, mit Maßregelungen einzuschreiten. Nun hatte sie auch die Rechte gegen sich, ohne darum doch die Radikalen für sich gewonnen zu haben, und so kam sie bei der nächsten Gelegenheit zu Falle. Als die Kammer 22. Mai das Verbot, daß Angestellte der Staatsbahnen an Arbeiterkongressen teil nähmen, mißbilligte, nahm das Ministerium seine Entlassung. Dupuy bildete nun wieder ein Kabinett (30. Mai). Eine hervorragende Stellung nahm darin der Minister des Auswärtigen, Hanoteaux, ein, der sogleich mit Energie gegen das zwischen England und dem Kongostaat 20. Mai geschlossene Abkommen vorging, durch das man F.s Vorzugsrechte im Kongobecken mißachtet und auch die Rechte der Pforte im äquatorialen Sudan geschmälert glaubte. Dieser Aktion ging parallel eine ähnliche Deutschlands, mit welchem Staat F. schon unter dem vorigen Ministerium 18. März ein sehr günstiges Abkommen über die Abgrenzung der beiderseitigen Machtsphären in Westafrika getroffen hatte, wodurch F. der Zugang zum Tsadsee gesichert war. Inzwischen wurde die Aufmerksamkeit von diesen Dingen abgelenkt durch die Ermordung des Präsidenten Carnot. Als dieser bei einem Besuch in Lyon 24. Juni abends nach dem Theater fuhr, wurde er von dem ital. Anarchisten Caserio, der sich auf das Trittbrett des Wagens schwang, durch einen Dolchstoß schwer verwundet und starb wenige Stunden danach. In der durch diese That hervorgerufenen Erregung machte namentlich die Teilnahme des Deutschen Kaisers und die damit verbundene Begnadigung zweier in Deutschland wegen Spionage verurteilten franz. Marineoffiziere einen tiefen Eindruck.

19) Unter der Präsidentschaft Casimir-Periers und Faures (seit 1894). In dem am 27. Juni in Versailles zusammengetretenen Kongreß wurde gleich im ersten Wahlgang Casimir-Perier, der nach dem Sturz seines Ministeriums wieder Kammerpräsident geworden war, mit 451 von 851 Stimmen zum Präsidenten der Republik gewählt. In ihm sah man in der Furcht vor der anarchistischen und socialistischen Gefahr den Retter des republikanischen Staatswesens. Die meisten Stimmen nach Casimir-Perier hatte der Radikale Brisson (191), der dann in der Deputiertenkammer zum Präsidenten