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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Altfranzösische Periode 1450-1515)

scheinlich eine Erfindung der "Enfants sans souci" (s. d.), einer um 1380 entstandenen Karnevalsgesellschaft. Die Sottie war ursprünglich eine Art "Parade" (Zugstück zum Anlocken des Publikums), später wurde sie eine dramat. Satire in närrischem Gewande, worin niemals wirkliche Personen auftraten, sondern Narren (Sots), die eine Einrichtung (l'Église), einen Stand u. dgl. personifizierten. Die Sottie erlangte die Freiheit, unter der Narrenmaske Wahrheiten vorzubringen, die sonst niemand öffentlich zu äußern wagte, und in polit. und religiösen Angelegenheiten ihre Meinung auszusprechen. Übrigens ist keins dieser Spiele aus der Zeit vor 1450 erhalten.

5) Die Zeit Ludwigs XI., Karls VIII. und Ludwigs XII. (ungefähr 1450-1515). Die Herrschaft der burgund. Schule in der Litteratur beginnt, seitdem die franz. Lehnsmonarchie Burgund unter Philipp dem Guten (1419-67) und Karl dem Kühnen (1467-77) neben dem franz. Königtum eine selbständige und übergreifende Machtstellung zu behaupten trachtet. Die am prunk- und kunstliebenden burgund. Hofe lebenden oder von hier aus unterstützten Poeten erlangen das höchste Ansehen in der litterarisch gebildeten Welt, und die Umwandlung der Dichtung in bloße Redekunst, ein Ziel, auf das die herrschende Richtung in der F. L. schon lange zusteuert, bringen sie zum Abschluß. Die Herrschaft dieser Schule überdauert den Zusammenbruch des Burgundischen Reichs (1477), denn sie reicht bis in die ersten Regierungsjahre des Königs Franz I., und die Nachwirkungen ihrer Geschmacksrichtung reichen bis über die Mitte des 16. Jahrh. Schon jetzt schöpfte man aus dem neubelebten Studium der Dichter des klassischen Altertums das Bewußtsein, daß gelehrtes Wissen zu den Quellen der Dichtung führe und mithin Gelehrsamkeit den Beruf zum Dichter erteile. Die Nüchternheit des Empfindens und die Trockenheit der Stoffe, die man dichterisch bearbeitete, suchte man durch äußere Mittel auf eine poet. Höhe zu erheben, indem volltönende, dem Griechischen und Lateinischen entlehnte Fremdwörter, umständliche Satzbildung und künstliche Reimspiele den histor., polit., moralischen Traktaten, den Lobreden und konventionellen Liebesgedichten die Zierden der Redekunst verleihen sollten. "Rhetoriqueur" war der Ehrenname des Schriftstellers und Dichters. Ein bürgerlicher Zug geht durch diese Dichtung, auch wo ihre Vertreter am Hofe leben. Denn von den Lobreden und Minnespielereien abgesehen, bestrebt man sich vornehmlich als Satiriker und Moralist, als Politiker und Geschichtschreiber, sein Zeitalter zurechtzusetzen und zurechtzuweisen, zu beeinflussen und zu unterrichten. Selbstverständlich bleibt dabei die Allegorie im Schwange; neu und der gelehrten Renaissance zu verdanken ist die immer häufiger werdende Einführung mytholog. Gestalten und Erfindungen. Der älteste der burgundischen Poeten, Régnier de Guerchy, Rat Philipps des Guten, war noch Zeitgenosse des Herzogs Karl von Orléans; Pierre Michault, Sekretär des Grafen von Charolais (Karls des Kühnen), widmete seine Hofzucht ("Doctrinal de cour") Philipp dem Guten (1466), sein "Danse des aveugles" stellt das Leben als einen Tanz vor, wozu drei Blinde (Amour, Fortune, Mort) den Takt schlagen; Olivier de la Marche (1422-1501), Gardekapitän Karls des Kühnen, erzählte in allegorischer Einkleidung ("Le chevalier délibéré") die Geschichte seines Herzogs. Der anerkannte Meister der Schule wurde Georges Chastelain aus Gent, der in Reimen und in Prosa vornehmlich geschichtliche Gegenstände behandelte ("Chronique des ducs de Bourgogne", 1419-70, "Épitaphes d'Hector" u. s. w.). Ihm schließt sich der Verskünstler Jean Molinet (gest. 1507) aus Valenciennes an, Lobredner des Hauses Burgund und Österreich, Verfasser von geistlichen, satir. und histor. Gedichten ("Éloges", "Complaintes", "Chapelet des dames" u. s. w.). Natürliche Begabung, Herrschaft über die Sprache, Gefühl für Harmonie und Tonfall besaß Jean Le Maire aus Belges (1473-1548), der letzte und bedeutendste Dichter aus Burgund. Er diente Margarete von Österreich, schrieb im Sinne der Politik Ludwigs XII. von Frankreich und begründete seinen Ruhm durch das umfängliche Geschichtswerk "Illustration des Gaules". Als geistvoller Novellist glänzte 1450-60 am burgund. Hofe Antoine de la Sale (1398-1461), der den Ritterroman auf den Boden der Wirklichkeit zurückführt und in der "Hystoyre et plaisante cronicque du petit Jehan de Saintré" (1459) zugleich das ritterliche Ideal seiner Zeit schildert. Auch die "Cent nouvelles nouvelles", hundert einfache, teils originale, teils aus Poggio, Boccaccio und den Fabliaux entlehnte Geschichten, 1456-61 in Brabant entstanden, sollen von Antoine de la Sale redigiert oder verfaßt sein. (Vgl. Cent nouvelles nouvelles, hg. von Th. Wright, 2 Bde., Par. 1858: Jehan de Saintré, hg. von Guichard, ebd. 1843.) Eine Satire gegen den Ehestand: "Les quinze joyes de mariage" (Parodie auf die mittelalterlichen "Joyes de Nostre-Dame"), ging um 1450 ans der Feder desselben Schriftstellers hervor. (Vgl. Quinze joyes de mariage, hg. von Janet, Par. 1853.) Verwandten Geistes sind auch die Entscheidungen in Sachen der Minne ("Arrests d'amour") des Pariser Prokurators Martial d'Auvergne, eine Schrift, die bis zur Mitte des 16. Jahrh. sich größter Verbreitung und höchster Wertschätzung erfreute. Im eigentlichen Frankreich, am Hofe Karls VIII., der Anna von Bretagne und Ludwigs XII., folgen dann die Dichter den Spuren ihrer burgund. Meister: Meschinot (gest. 1491), Chrétien aus Paris (gest. 1525), Octavien de Saint-Gelais, Gringore und der letzte vielschreibende Vertreter der Rhetorik, Jean Bouchet (gest. um 1550). Die bürgerliche Satire dieses Zeitraums findet in den volkstümlichem Schriften Coquillarts ihren Ausdruck. - Überhaupt verstummt die volkstümliche Dichtung jetzt nicht. Polit. und Liebeslieder, frei von den Unarten des höhern Stils, von wahrer Empfindung und natürlichem Ausdruck, sind in größerer Anzahl aus dieser Periode erhalten. (Vgl. G. Paris, (Chansons du XVe siècle, Par. 1875; Mor. Haupt, Franz. Volkslieder, Lpz. 1877.) Auch der Pariser Dichter François de Montcorbier, genannt Villon (1431 bis etwa 1461), ist ein echtes Talent von ursprünglicher Frische, dessen ungesuchte poet. Beredsamkeit in den Herzen seines Volks Widerhall fand. - Ihren populären Charakter bewahrte sich auch die Bühne. Die Blüte der Mysteriendichtung ist vorüber, aber es werden doch noch neue Stücke geschrieben, wie "La destruction de Troye la grant" (neu hg. von Stengel, Marb. 1883) von Jacques Miller (1425-66) aus Paris, worin (um 1452) der mittelalterliche Trojaroman dramatisiert ist, das "Mystère de Saint Didier" (1482 zu Langres aufgeführt) von