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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Neufranzösische Periode 1790-1815)

Fragen in Anspruch genommen, und gleichgültig ließ man in der Dichtung den traditionellen Klassicismus sich aufrecht erhalten, um so mehr, als dessen nüchterne Verständigkeit und rhetorisches Pathos trotz seiner aristokratischen Bestandteile dem polit. Rationalismus sowohl republikanischer wie monarchischer Gewaltherrschaft innerlich verwandt ist. So blieb der Klassicismus auch unter Napoleon I. die anerkannte litterar. Macht. Hingegen ist es leicht erklärlich, daß eine der Verstandespoesie den Rücken wendende Geistesrichtung gern die in der Revolution erworbene Freiheit und größere Selbständigkeit des Einzelnen annahm, sich aber auflehnte gegen den durch den Fanatismus der Aufklärung bis zum Götzendienst getriebenen Vernunftkult und auf die nicht weniger realen in Gemüt und Phantasie der Menschen wurzelnden Mächte zurückgriff.

Während der Revolutionszeit waren Zeitungen und Flugschriften die in den Vordergrund tretenden litterar. Erscheinungen, und insbesondere entfaltete sich die parlamentarische Beredsamkeit zu großer Blüte. Der berühmteste von allen Rednern dieser Zeit war Mirabeau. Um ihn gruppierten sich der Kardinal Maury, Mounier, Lally-Tollendal, Clermont-Tonnerre, Adrien Duport, Barnave, Sieyès und der milde royalistische Cazalès. Während der Assemblée législative traten die Girondisten und unter ihnen besonders Vergniaud hervor. Die Reden der Convention nationale und des Directoire arteten nicht selten in wahre Wutausbrüche aus. Das vollständigste Bild der franz. Journalistik und Beredsamkeit während der Revolutionszeit gewährt die "Histoire parlementaire de la Révolution française" von Roux und Buchez (40 Bde., Par. 1833-38). - Fast nur geschichtliches Interesse haben die vielen Gelegenheitsgedichte, die in den "Poésies nationales de la Révolution française" gesammelt sind. Das am meisten charakteristische lyrische Erzeugnis der Epoche ist die "Marseillaise" (von Rouget de l'Isle). Lebrun-Pindares republikanische Oden, M. J. Chéniers "Hymne à l'Être suprême" drückten polit. und religiöse Ideen der Revolution mit klassischer Gespreiztheit aus. Der größte Dichter des Zeitalters, André Chénier, wurde ein Opfer der Schreckenszeit (25. Juli 1794). Seine Elegien, Idyllen und übrigen Dichtungen, an wahrer Empfindung, Kraft, frischer Sinnlichkeit und reinem Geschmack unerreicht, eröffneten den Franzosen den Ausblick in eine ihnen bisher unbekannte poet. Welt, aber sie blieben damals ziemlich unbekannt, und erst ein Menschenalter später (1819) gleichsam neu entdeckt, trugen sie Frucht für das dann folgende Dichtergeschlecht.

Unter den dramatischen Dichtern dieser Zeit erwarb sich Andrés Bruder, M. J. Chénier, einen angesehenen Namen. Er liebte es, seine histor. Tragödien mit Anspielungen auf Zeitereignisse zu würzen und das Theater zur Rednerbühne zu machen. Neben ihm zeichneten sich Fabre d'Eglantine und Laya mehr als Lustspieldichter aus. Besonderes Gefallen erregten Schauerdramen wie die "Victime cloîtrées". Daneben war das Theater mit Gelegenheitsstücken aller Art überschwemmt, unter denen viele vom Schauspieler Dugazon herrührten. Meist wurde in diesen Stücken der großen Menge und den Gewalthabern Weihrauch gestreut; nur einige Dichter, z. B. Laya in seinem "Ami des lois", hatten Mut genug, die Terroristen offen anzugreifen. Auch Collot d'Herbois, der eine so schreckliche Rolle in der Revolution spielte, schrieb mehrere Komödien. Das merkwürdigste Schauspiel indes, das wäbrend der Revolution zur Aufführung kam, war wohl "Le jugement dernier des rois" von dem fruchtbaren Sylvain Maréchal. Auch die Comédie larmoyante fand Beifall, besonders erhielt die Bearbeitung von Kotzebues "Menschenhaß und Reue" eine günstige Aufnahme. Demoustier war in seinen dramat. Stücken "Le conciliateur" und "Les femmes" ebenso affektiert als in seinen "Lettres à Émilie". - Vgl. Géruzez, Histoire de la littérature française pendant la Révolution (Par. 1859); Lotheissen, Litteratur und Gesellschaft in Frankreich zur Zeit der Revolution 1789-94 (Wien 1872).

Als aber das Jahrhundert zu Ende ging und auf die innern Stürme des polit. Lebens in Frankreich eine Ruhebedürftigkeit folgte, die es dem siegreichen Feldherrn möglich machte, die Leitung des Staatswesens in seine feste Hand zu nehmen, erhielt jene obenbezeichnete, der Aufklärungslitteratur und Verstandesdichtung feindliche Richtung ihre berufenen Vertreter, und als Verkündiger und Vorkämpfer einer Dichtung von neuem Ideengehalt traten hervor Châteaubriand ("Génie du christianisme", 1802) und Frau von Staël ("De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales", 1800; "De l'Allemagne", 1810), beide durch außerhalb Frankreichs gesammelte Erfahrungen und Eindrücke über die engen Grenzen des franz. Klassicismus erhaben; der erstere vermischte in seinen farbenprächtigen Dichtungen feine Begeisterung für die Schönheit des Christenglaubens mit Wertherschem Subjektivismus und Rousseauscher Naturschwärmerei, während Frau von Staël, für die Freiheit der Persönlichkeit in Leben und Dichtung kämpfend, dem erstarrenden Konventionalismus der franz. Poesie, unter Hinweis auf die Kunst und Litteratur Italiens und Deutschlands, die Forderung der Naturwahrheit, der Übereinstimmung von Leben und Kunst entgegenstellte.

Freilich blieb die natürliche Weiterentwicklung der F. L. auch nach dem Emporkommen der Napoleonischen Herrschaft ans zweifachem Grunde gehemmt. Einmal war Napoleon I. aus polit. Erwägungen den freien geistigen Regungen abgeneigt, und nur die naturhistor. und mathem. Wissenschaften fanden bei ihm Förderung und Begünstigung, dann aber wurden die meisten hervorragenden Geister durch die kriegerischen Unternehmungen Frankreichs von der Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft abgezogen. Die Verdienste, die sich Napoleon durch die neue Organisation des gesamten Unterrichtswesens um die Wissenschaft erworben hat, sind nicht zu verkennen; aber das Wort, das er selbst mit so großem Erfolge zu gebrauchen verstand, schien ihm eine gefährliche Waffe, deren Handhabung er durch eine strenge Censur regeln zu müssen für notwendig hielt. Châteaubriand, dessen Verherrlichung des kath. Glaubens Napoleon für seine polit. Zwecke willkommen war, konnte doch zum Kaiser in ein dauerndes Verhältnis nicht kommen; Frau von Staël wurde von der kaiserl. Polizei in die Verbannung gejagt und ihr Werk über Deutschland in Paris eingestampft. Dagegen begünstigte Napoleon alle Schriftsteller, die als gemäßigte Voltairianer und Anhänger verständiger Aufklärung und Ordnung in den ausgefahrenen Gleisen des Klassicismus die Poesie vor sich hertrieben. Als Meister