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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Französische Philosophie

auch Männer wie Bonnet und Robinet, die über die mechanistische Naturlehre hinauszugehen strebten; er war auch die Grundlage für die gleichfalls von den engl. Lehren abhängige Entwicklung der Moralphilosophie, deren Vertreter Helvétius (s. d.) den Egoismus als die Grundlage alles moralischen Lebens aufstellte und die Tugend nur für diejenige Art desselben erklärte, die mit dem Wohl des einzelnen auch das der Gesellschaft fördert. Doch ist es schwer, die Fülle dieser Gedankenbeziehungen auf die einzelnen Vertreter zu verteilen; die Pariser Gesellschaft der Mitte des 18. Jahrh. ist vielmehr wie ein einziges philosophierendes Individuum, in dem sich Gedanke auf Gedanke in schneller Entfaltung drängt. Am wirksamsten zeigt sich diese Konzentration in dem Kreise der sog. Encyklopädisten, aus dem unter der Leitung der beiden bedeutendsten, Diderot (s. d.) und d'Alembert (s. d.), die "Encyklopädie" hervorging, ein Werk, das dem Geiste der Aufklärung weit über die Grenzen Frankreichs hinaus zahllose Jünger geworben hat. Zum Teil dieselben Männer bildeten etwas später den Kreis, der sich in dem Hause des Barons von Holbach (s. d.) versammelte; hier wurde das "Système de la nature" entworfen, die "Bibel des Naturalismus", worin, Dogma gegen Dogma, der konsequente Materialismus der Kirchenlehre gegenübergestellt wurde. Auf dem polit. Gebiete war schon früh durch Montesquieu (s. d.) die Lockesche Theorie der Repräsentativverfassung den Franzosen geläufig geworden; je mehr sich später die Gegensätze des wirklichen Lebens verschärfen, um so radikaler werden auch die Theorien; der Moralphilosophie des Egoismus tritt in Männern wie Morelly und Mably (s. d.) der kommunistische Gedanke gegenüber, daß im Privateigentum der Grund aller gesellschaftlichen Zerrüttung liege, und am eindringlichsten erhebt endlich J. J. Rousseau (s. d.) seine Stimme, indem er aus der entarteten Kultur die Rückkehr zur Natur und damit den Bruch mit der Geschichte, den später die Revolution vollzog, predigt.

Im 19. Jahrh. hat die F. P. den Charakter der engen Beziehung zu den Fragen des öffentlichen Lebens und namentlich den socialen Bewegungen nicht nur festgehalten, sondern womöglich noch schärfer ausgeprägt. Anfänglich herrschte noch fast unumschränkt die sensualistische Schule, die in der Revolutionszeit durch Moralpolitiker wie Saint-Lambert (s. d.), Volney (s. d.), Condorcet (s. d.) vertreten war, auf theoretischem Gebiete aber in Cabanis den großen Fortschritt machte, daß an die Stelle der mechan. Bewegungen, worauf das "Système de la nature" auch die geistigen Thätigkeiten zurückgeführt hatte, die chem. und organischen Vorgänge gesetzt wurden. Der Widerspruch, den sie fand, erwuchs aus religiösen Tendenzen, teils in der Form des von Saint-Martin (s. d.) mit Anknüpfung an Jakob Böhme neu erweckten Mysticismus, teils in der Form des Orthodoxismus und der hierarchischen Propaganda. Nachdem hier Châteaubriand vorgearbeitet, erfolgte der Hauptangriff durch Jos. de Maistre (s. d.) und de Bonald (s. d.), denen sich später Bautain (s. d.) und Maret anschlossen. Seitdem ist der Gegensatz zwischen der katholisierenden, hierarchischen Partei und den Verteidigern einer unabhängigen Forschung immer stärker hervorgetreten und namentlich in den Kämpfen um den öffentlichen Unterricht wichtig geworden. An die Stelle der sensualistischen Schule trat die sog. spiritualistische, die sich an die schott. Philosophie anlehnte und durch Maine de Biran (s. d.), Th. S. Jouffroy und Royer-Collard (s. d.) vertreten war. Ihre Tendenz ging dahin, aus der Selbstbeobachtung die Gewißheit der sittlichen und religiösen Weltauffassung unabhängig von kirchlichen Lehren zu begründen. In eine neue Phase trat diese Richtung durch V. Cousin (s. d.), der auch mit der deutschen Philosophie vertraut war und der spiritualistischen Richtung den Charakter des Eklekticismus aufprägte. Das wesentlichste Verdienst dieser eklektischen Schule, zu der neben Cousin selbst Jul. Simon (s. d.), François Rémusat (s. d.), Damiron, Emile Saisset, Ravaisson, Hauréau, Paul Janet, Levêque, Bouillier, Lemoine, Caro (s. d.) gehören, besteht in ihrer umfassenden und vielseitigen Bearbeitung der Geschichte der Philosophie und in dem Bestreben, die Methoden und die Ansichten der verschiedenen Systeme der deutschen Philosophie in Frankreich bekannt zu machen. Der Einfluß Kants zeigt sich besonders in den Werken von Renouvier und Vacherot (s. d.), während Michelets empfindungswarme Gedanken vielfach an andere deutsche Systeme erinnern.

Während nun diese eklektische histor. Richtung sich bis nach der Revolution von 1848 kräftig erhielt und z. B. noch in dem von Franck redigierten "Dictionnaire des sciences philosophiques" ihr spiritualistisches Glaubensbekenntnis niederlegte, breiteten sich zugleich die socialistischen Theorien aus, die mit ihren Ursprüngen in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrh. zurückweisen, wo Fourier seine Theorie von der Organisation der Arbeit entwickelte, wo Saint-Simon die Emporhebung des Proletariats zu Wohlstand und Bildung auf seine Fahne schrieb und Proudhon seine neue Lehre von der Verteilung des Eigentums entwickelte. Die Anhänger Fouriers, wie Considérant (s. d.), Cabet (s. d.), Louis Blanc (s. d.), waren radikal in jeder Beziehung; bei den Saint-Simonisten zeigt sich eine eigentümliche Verschmelzung der socialistischen Theorie mit katholisierender Metaphysik; zu ihnen gehören Buchez (s. d.), Leroux (s. d.), Jean Reynaud (s. d.), Lazare Hippolite Carnot (s. d.) u. a., die in der "Nouvelle Encyclopédie" ihre Ansichten niedergelegt haben. Ja, mit der vollen Kirchengläubigkeit und der Richtung de Maistres erscheint der radikale Demokratismus versöhnt in dem interessanten Entwicklungsgange von Lamennais (s. d.). Aus der Schule Saint-Simons hervorgegangen ist auch Auguste Comte (s. d.). Von dem schon von d'Alembert geäußerten Grundgedanken ausgebend, daß alles menschliche Denken vom mythologischen zum metaphysischen und von diesem zum empirischen oder "positiven" Stadium fortschreitet, hat er sein System des Positivismus aufgestellt, das die "Sociologie", die Lehre von der Gesellschaft, auf die Psychologie und diese auf die experimentelle Naturwissenschaft gründen will. Bekannt wurde diese Lehre zunächst in England, erst später fand sie in Frankreich zahlreiche Schüler. Ihr bedeutendster Vertreter ist Littré (s. d.), unter den übrigen ragen Th. Ribot (s. d.), der Herausgeber der "Revue philosophique", und der freilich eklektischen Einflüssen ebenfalls zugängliche Taine hervor.

Vgl. Damiron, Mémoires pour servir à l'histoire de la philosophie au XVIII<sup>e</sup> siècle (3 Bde., Par. 1858-64); ders., Essai sur l'histoire de la philosophie en France au XIX<sup>e</sup> siècle (2 Bde., ebd. 1846); Taine, Les philosophes classiques français du XIX<sup>e</sup> siècle (ebd. 1857; 3. Aufl. 1868); Janet,