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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Goethe (Johann Wolfgang von)

Fritz Jacobi, der freilich Spinozas wachsenden Einfluß auf G. nicht hindern konnte. Ein Besuch des jungen Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar führte zu einer Einladung dorthin, die G. um so lieber annahm, als der Ortswechsel ein unklares, schmerzlich gelöstes Verhältnis zu der eleganten und reichen Patriciertochter Anna Elisabeth Schönemann (Lili) entscheidend abschnitt.

Am 7. Nov. 1775 trifft der Dichter in der kleinen thüring. Residenz Weimar ein. Einigen tollen Monaten, die der dem Günstling mißwollende Hofklatsch geschäftig aufbauschte (vgl. Diezmann, G. und die lustige Zeit in Weimar, Lpz. 1857), folgt eine arbeitsreiche Zeit, geteilt zwischen poet. Schaffen für den Bedarf des Hofes und ernster Verwaltungsthätigkeit, die G. mit allen Schichten des Volkslebens in Berührung brachte; seine Fürsorge für den Ilmenauer Bergbau nährte stark seine Neigung zur Naturforschung. In unbedingter und nie wankender vertrauensvoller Freundschaft schloß sich Herzog Karl August an seinen großen Freund, der selbst den Stürmer mehr und mehr ablegte, da er den Fürsten zu zähmen hatte; 1776 trat G. als Legationsrat ins Conseil, ward 1779 Geheimrat, 1782 geadelt und Kammerpräsident, d. h. Finanzminister. (Vgl. Düntzer, G. und Karl August, 2. Aufl., Lpz. 1888.) Wielands Herz eroberte er im Sturm; an Herder, der auf seinen Antrieb als Generalsuperintendent berufen wurde, hatte er trotz mancher Trübungen lange einen Mitstrebenden, dem er im Humanus seines fragmentarischen Epos "Die Geheimnisse" ein Denkmal setzte. Mehr als alle bedeutete ihm seine "Besänftigerin", die Hofdame Frau von Stein (s. d.), die "Lida" seiner Lyrik, die ihm zehn Jahre lang ein unsinnliches und doch herzenswarmes Liebesglück gewährte und besonders dazu beitrug, die hochgehenden Wogen der drängenden Leidenschaft zu harmonischer Schönheit zu glätten: in der "Iphigenie" zumal, die 1779 prosaisch vollendet wurde, hat sie ihm poet. Gestalt gewonnen; aber auch die Heldin des unvollendeten "Falken", die Charlotte der "Geschwister" (1776) spiegelten ihr Bild wieder. In diesem Dramolet und weit bedeutender im "Wilhelm Meister", an dem er zumal 1782-83 arbeitete, ist es nicht mehr eine excentrische Ausnahmegestalt, wie in "Götz" und "Werther", sondern eher ein strebsamer Durchschnittsmensch aus engen Verhältnissen, der im Mittelpunkt steht; die Poesie des wirklich typischen Lebens verdrängt die des Ausnahmefalls. Auch am "Egmont", den G. noch in Frankfurt begann, am "Tasso" arbeitet er in den zehn ersten Weimarer Jahren, ohne die Ruhe zum Abschluß zu finden; ebenso blieb ein intereßantes rätselreiches Bruchstück "Elpenor", ein antikes Schicksalsdrama nach chines. Novellenmotiv, in den Anfängen, und von Arbeiten höhern Stils kamen nur kleinere, wie das Melodrama "Proserpina", vielleicht zur Totenfeier für Glucks Nichte Nanette bestimmt, und die wundervollen Hymnen "Grenzen der Menschheit", "Das Göttliche" u. a. zur Vollendung, die zeigen, wie sich der Titan mehr und mehr den Göttern beugt. Um so reicher war halb notgedrungen G.s Schaffen für das Liebhabertheater des Hofs, an dem auch die von ihm hochgeschätzte Künstlerin Corona Schröter zuweilen mitwirkte. Das nicht ungetrübte Verhältnis der herzogl. Gatten, das G. leise zu heilen strebte, klingt durch in "Lila", im "Triumph der Empfindsamkeit", der zugleich eine kräftige Satire auf die Modesentimentalität enthält, in den "Ungleichen Hausgenossen"; daneben steht die Aristophanische Posse "Die Vögel", das Singspiel "Jeri und Bäteli", der Niederschlag einer Schweizerreise mit dem Herzog (1779), und das für G.s Lieblingsschöpfung, den Weimarer Park, effektvoll berechnete Idyll "Die Fischerin", in dem der "Erlkönig" zuerst erschien (1782).

Die Fülle der Geschäfte und Zerstreuungen erweckten schließlich in G. ein so tiefes Bedürfnis nach Sammlung, nach Lösung aus manchem innerlich überwundenen Verhältnis, daß er, nur mit Wissen seines herzogl. Freundes, 3. Sept. 1786 von Karlsbad nach Italien aufbricht, wo er bis in das Frühjahr 1788 bleibt. Hier findet er sich selbst wieder. Seine Sinnlichkeit reift hier im Anblick antiker Kunst und ital. Natur zur genialen Anschauung des Typischen, Gesetzmäßigen in Kunst und Natur aus, und das kommt seiner Dichtung wie seiner Forschung zu gute. Und hier findet er Stimmung und Muße, die lange geplante Sammlung seiner "Schriften" zu beginnen. Der "Faust" zwar erscheint in ihnen wenig über die Frankfurter Scenen hinaus gefördert (Neudruck des Fragments von 1790 in den "Deutschen Litteraturdenkmalen des 18. und 19. Jahrh.", hg. von Seuffert, Heilbr. 1882). Aber in "Iphigenie" (erschienen 1787; Ausg. von Bächtold in vierfacher Gestalt, Freiburg 1883; O. Jahn, "Aus der Altertumswissenschaft", Bonn 1868; K. Fischer, "Goetheschriften, I", Heidelb. 1888) goß er die ursprüngliche Prosa zu melodischen Jamben um, die der ruhigen Schönheit des Werkes höchst gemäß sind. Die äußerliche Lösung des Konflikts, die Euripides' "Iphigenie" gegeben hatte, wird hier in eine innerliche Heilung durch die Macht der Buße und Wahrheit gewandelt, wie sie Sophokles im "Philoktet" vorbereitet hatte: "Alle menschlichen Gebrechen heilet reine Menschlichkeit." Schade, daß ein in Italien gefaßter Plan "Iphigenie in Delphi" ebensowenig zur Vollendung gelangte wie die "Nausikaa", von der wir verheißungsvolle Scenen haben. Auch der schon 1780 begonnene "Tasso" (Ausgabe von Kern, Berl. 1893; vgl. K. Fischer, Goetheschriften, III, Heidelb. 1890) reifte unter Italiens Sonne weiter und dankt ihr den Glanz der Farbe und Stimmung, wenn er auch erst 1789 vollendet wurde (erschienen 1790). Während im ursprünglichen Plane Tasso, ein gesteigerter Werther, die volle Sympathie des Dichters besaß, entzog gemäß dem Laufe der eigenen Entwicklung G.s der weltkundige thätige Antonio dem nervösen Helden mehr und mehr von G.s Beifall: das ungehemmte Ausleben des Genies ist dem gereiften Dichter nicht mehr das Höchste. Welch wunderbarer Unterschied des Stils zwischen "Iphigenie" und "Tasso"! Hier eleganter Konversationston, dort erhabene Menschlichkeit. Aber ihr äußerer Erfolg war gering. Nicht besser ging es dem "Egmont", der gleichfalls in Italien vollendet ward "(erschienen 1788). In seinen Volksscenen zumal lebt noch etwas von Shakespeares Einfluß; aber der Held, frei und unfrei wie die Natur, sorglos naiv, ohne Pathos und Reflexion, konnte mit Schillers lärmenden Revolutionären beim Publikum nicht wetteifern, und Klärchens herrliche Gestalt, ein pathetisches Seitenstück zu Gretchen, erregte gar moralische Skrupel.

Es wurde dem Zurückgekehrten nicht leicht, sich wieder in die Weimarer Verhältnisse zu finden. Von Ämtern behielt er nur die bei, die seinen Neigungen entsprachen, vor allem das Kuratorium der Universität Jena, die Aufsicht über den Bergbau, dann