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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Goethe (Johann Wolfgang von)

Nr. 7 u. 8, hg. von Seuffert, Heilbr. 1883) einen schneidigen kritischen Feldzug des Sturms und Drangs gegen die Durchschnittslitteratur eröffnen, beteiligt sich G. mit Lust und Eifer, nicht nur zerzausend, auch positive Zukunftsbilder aufbauend. Straßburger Gedanken führt er aus in dem Aufsatz "Von deutscher Baukunst", der das Lob Erwins von Steinbach singt, und in zwei dilettierenden theol. Schriften ("Brief des Pastors * zu * an den neuen Pastor zu ***" und "Zwo wichtige biblische Fragen"), die Duldsamkeit predigen und eine naive Bibelkritik, aber in Herders Sinne, versuchen. Dramen über "Cäsar" und "Sokrates" beschäftigen ihn. Doch der Hauptertrag des Winters 1771-72 ist der "Götz von Berlichingen" oder, wie es in dem ersten Entwurf hieß, "Geschichte Gottfriedens von Berlichingen", eine technisch regellose Shakespearische Historie auf Grund der Selbstbiographie des braven Faustrechtritters gearbeitet, der bei G. der ideale Vertreter des echten schlichten Deutschtums geworden ist (hg. von Bächtold in dreifacher Gestalt, Freiburg 1882; von Chuquet und von Lichtenberger, Par. 1885). Der Grundgedanke, der Konflikt des individuellen Rechts- und Freiheitsgefühls mit der Allgemeinheit, ward zumal im ersten Entwurf durch den Reichtum bevorzugter Lieblingsfiguren (Adelheid) und glänzender Episoden überwuchert: die uns geläufige Gestalt des "Götz" (1773 erschienen) ist schon das Ergebnis einer bewundernswerten Selbstkritik. Die Doppelgestalt Götz-Weislingen, die zwei Seiten des Dichters auseinander legt, kehrt von nun an in G.s bedeutendsten Werken wieder (Faust-Mephisto, Clavigo-Carlos, Tasso-Antonio u. s. w.). Der Erfolg des Dramas war ungeheuer; es steht an der Spitze des gesamten deutschtümelnden Ritterdramas (vgl. Brahm, Das deutsche Ritterdrama des 18. Jahrh., Straßb. 1880) und machte seinen Autor mit einem schlage zum berühmten Mann.

Ein Sommeraufenthalt (1772) beim Reichskammergericht in Wetzlar (vgl. Herbst, G. in Wetzlar, Gotha 1881) mit seinen mittelalterlichen Gepflogenheiten hatte G. inzwischen beste Gelegenheit zu Götz-Studien nach dem Leben gewährt. Berühmter ist dieser Aufenthalt durch G.s Verhältnis zu Charlotte Buff (s. d.), der verlobten Braut seines geschätzten Freundes Kestner, das man freilich nicht nach dem "Werther" (erschienen 1774) beurteilen darf. Dafür hat es nicht den innern Konflikt, sondern nur die äußere Einkleidung hergegeben. Jener beruht vielmehr teils auf dem Schicksal des unglücklichen jungen Jerusalem, den hoffnungslose Liebe und gekränkter Ehrgeiz zum Selbstmord trieben, teils auf der peinlichen Rolle, die G. selbst in der unbefriedigenden Ehe der schönen Maximiliane La Roche, der Tochter Sophiens La Roche (s. d.), mit dem Frankfurter Kaufmann Brentano spielte. In der von Richardson erlernten, für psychol. Analyse unübertrefflichen Form des Briefromans entwickelt G. die allmähliche Zerrüttung eines hochherzigen edlen, aber krankhaft feinfühligen Geistes; Werther, ein deutsches Seitenstück des Rousseauschen St. Preux, vertritt das Recht des weichfühlenden Herzens inmitten fühlloser Umgebung (vgl. Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und G., Jena 1875). Mit wunderbarer poet. Kraft und stilistischer Meisterschaft traf der Roman die von G. selbst durchgemachte Zeitkrankheit der Empfindsamkeit und stellte durch seinen Erfolg, der ihm ebenso begeisterte Zustimmung wie hitzige Anfeindung eintrug, selbst den "Götz" weit in Schatten. Auch an "Werther" schloß sich eine ganze Litteratur der Nachahmungen (z. B. in Italien Foscolos "Briefe des Jac. Ortis"; vgl. Appell, Werther und seine Zeit, 3. Aufl., Oldenb. 1882), Parodien und Übersetzungen.

G.s drittes Hauptwerk in dieser Zeit war der "Faust", ein Lieblingsstoff der Stürmer und Dränger, auf Grund des Volksbuchs des "Christlich Meinenden" in Prosa begonnen, dann in Hans Sachsischen Knittelversen fortgeführt: unzweifelhaft sollte der Titan des Wissensdurstes, eine Gestalt der Reformationszeit gleich dem Götz, ursprünglich auch bei G. schwungvoll zur Hölle fahren. In der Gretchen-Tragödie skizzierte er jetzt schon sein rührendstes Frauenbild, im Mephisto schuf er den genialsten Cyniker des Realismus. Doch der "Faust" kam damals über einzelne Scenengruppen nicht hinaus. Eine andere Titanengestalt G.s, der "Prometheus", rückte nie über wenige gewaltige, von spinozistischer Weltanschauung getränkte Scenen fort.

Die Frankfurter Jahre 1773-75 zeigen eine schier unglaubliche Schöpfungskraft. Aus Beaumarchais' "Memoiren" macht G. schnell den bühnenwirksamen "Clavigo" (1774) zurecht. Litterar. Motive (Swift) und Erlebnisse im Freundeskreise wirken zusammen, um ihn das Problem der Doppelehe in seiner meist unterschätzten "Stella" (1776), diesem hohen Liede der Frauenliebe, behandeln zu lassen: leider hat er die Dichtung später durch ein unvorbereitetes tragisches Ende entstellt. Eine interessante dramat. Studie "Mahomet" blieb im Ansatz stecken, während die Singspiele "Erwin und Elmire" und "Claudine von Villa Bella" mit einer Energie und Frische, die freilich aus den bekanntern spätern Fassungen kaum durchschimmert, Herzenserlebnisse G.s behandeln. Von grandiosem epischem Wurf sind die Fragmente "Der ewige Jude" (1774), die in ihrer Verbindung des derben Knittelversstils und des herrlichsten Pathos am nächsten zum "Faust" gehören. Neben diesen ernstern Arbeiten läuft eine Überfülle von Farcen und Satiren her, in denen G. als das anerkannte Haupt der Stürmer und Dränger (Lenz, Klinger, Wagner u. a.) gegen die Gegner seiner poet. Richtung, aber auch gegen die Auswüchfe in der eigenen Partei zu Felde zog: so wendet sich "Götter, Helden und Wieland" gegen die süßliche Auffassung der Antike in Wielands "Alceste", "Satyros" gegen gewisse Züge der Herderschen Art, "Pater Brey" gegen den Empfindler Leuchsenring, der "Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes" gegen Bahrdts platten theol. Rationalismus, während andere Sachen, wie das "Jahrmarktsfest zu Plundersweilern" und das groteske Possenfragment "Hanswursts Hochzeit" mehr eine Epigrammensammlung auf die verschiedensten Personen vereinigen. Der Stil des Fastnachtspiels gab eine bequeme und wirksame Form für diese genial witzigen Scherze, die übrigens nur zum kleinen Teil damals gedruckt wurden.

G. hatte in Frankfurt Advokatenpraxis: aber sie drückte ihn nicht, da der Vater das rein Geschäftliche ihm gern abnahm. So behielt er Zeit zu freiem Verkehr mit den Männern, die ihn etwa aufsuchten, wie Klopstock und die Brüder Stolberg, mit denen er 1775 eine genialische Schweizerreise unternahm. Bedeutsamer waren seine Beziehungen zu Lavater, an dessen "Physiognomischen Fragmenten" er sehr stark beteiligt war (vgl. von der Hellen, G.s Anteil an Lavaters physiognomischen Fragmenten, Frankf. a. M. 1888), und zu dem Gefühlsphilosophen