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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Grimm (Jakob)

Berl. 1877; 4. Aufl. 1887); ferner der Roman "Unüberwindliche Mächte" (3 Bde., ebd. 1867; 2. Aufl., 2 Bde., 1870) und Homers Ilias, 1. bis 9. Gesang (ebd. 1890). G.s Gemahlin war die dramat. Schriftstellerin Gisela von Arnim, Tochter Achims und Elisabeths (Bettinas) von Arnim (s. d.).

Grimm, Jakob, der Begründer der deutschen Philologie, geb. 4. Jan. 1785 in Hanau, wuchs, des Vaters früh beraubt, in engen Verhältnissen auf, besuchte das Casseler Lyceum und bezog 1802 die Universität Marburg, wo er unter Savigny die Rechte studierte; ihm half er 1805 in Paris bei wissenschaftlichen Arbeiten. Seine damaligen Briefe an den jüngern Bruder Wilhelm, mit dem er sein Leben lang durch treue Liebe und Gemeinschaft der Arbeit verbunden war, beweisen, daß schon hier sein Interesse für altdeutsche Dichtung begann. Herbst 1805 wurde er in Cassel Kriegssekretariatsaccessist, 1808 auf Empfehlung Johannes von Müllers Privatbibliothekar Jérômes, 1809 Staatsratsauditeur, lauter bequeme Ämter, die ihm genug wissenschaftliche Muße ließen. Nach den Freiheitskriegen nahm er als Legationssekretär am Wiener Kongreß teil und forderte im preuß. Auftrage die geraubten deutschen Handschriften aus Paris zurück. Um in Hessen zu bleiben, schlug er eine Bonner Professur aus und begnügte sich mit der Stelle des zweiten kurfürstl. Bibliothekars in Cassel; 1829 bei einer Beförderung kränkend übergangen, folgte er mit seinem Bruder Wilhelm einem Rufe nach Göttingen als Bibliothekar und Professor. Seine Lehrthätigkeit (über deutsche Sprache, Litteratur und Rechtswissenschaft) war nicht groß; enge Freundschaft verknüpfte ihn mit Dahlmann, Gervinus, Otfried Müller und dem Fachgenossen Benecke. Der Protest der Göttinger Sieben gegen den Staatsstreich des Königs von Hannover trug ihm die Ausweisung ein; Dez. 1837 kehrte er nach Cassel zurück. Von hier zog ein ehrenvoller Ruf Friedrich Wilhelms IV. die Brüder als Mitglieder der Akademie der Wissenschaften nach Berlin, wohin sie März 1841 übersiedelten; hier fanden sie Savigny und Lachmann, dem sie längst brieflich nahe getreten waren, Meusebach und die eifrige Freundin Bettina. 1846 und 1847 leitete Jakob G. als Ehrenpräsident die Germanistenversammlungen in Frankfurt a. M. und Lübeck; 1848 wurde er in das Frankfurter Parlament gewählt und nahm, ein eifriger Anhänger der preuß. Hegemonie, an der Gothaer Versammlung teil, ohne sich in seiner schlichten Ehrlichkeit mit dem polit. Parteitreiben befreunden zu können. Er starb 20. Sept. 1863. Der Grundstein eines gemeinsamen Denkmals für ihn und seinen Bruder wurde 4. Jan. 1885 in Hanau gelegt.

Eine einfache, heitere und genügsame Gelehrtennatur, kannte und wollte Jakob G. keine Freude als die Arbeit. Mit lebhafter Energie greift er zu; ein grandioser Reichtum der Anschauung und des Wissens, gepaart mit genialster Kombination, führt ihn schnell zu den bedeutungsvollsten Resultaten; seine Ausführung des Details, Schärfe der Logik und Kritik ist nicht im gleichen Maße vorhanden. In all der Vielheit seiner Interessen leitete ihn nichts so sehr als die kindliche Liebe zum Volkstümlichen, Heimatlichen, Sinnlichen. Sie hat ihn zur Überschätzung der Volksdichtung gegenüber der Kunstdichtung verleitet, hat ihn oft mit Unrecht geneigt gemacht, alles heute im Volke Lebende für uralten deutschen Besitz zu halten; aber in dieser Liebe liegt zugleich seine eigentümliche Größe, liegen die stärksten Wurzeln seiner Kraft. Die gesunde Bildlichkeit, die unschuldige Frische seiner Sprache stellt Jakob G. zu den ersten Meistern unserer Prosa. Alle puristische Pedanterie, alle Sprachmeisterei war ihm herzlich zuwider. Durch und durch histor. Forscher, beobachtete er das organische Werden mit liebevollster Versenkung; dieses Werden seinerseits durch praktische Regeln zu beeinflussen, lag seinem duldsamen Sinne, dem alles natürlich Gewordene sein Recht hatte, ganz fern, schien ihm fast frevelhaft.

G. ging aus von der Heidelberger Romantik; mit Arnim nahe befreundet, arbeitete er an der "Einsiedlerzeitung" mit, auf Arnims Drängen gab er mit Wilhelm zusammen die "Kinder- und Hausmärchen" (2 Bde., Berl. 1812-14 u. ö.; 39. Aufl. in 1 Bd., Gütersloh 1890) und die "Deutschen Sagen" (2 Bde., Berl. 1816-18; 3. Aufl. 1891) heraus. Ihren Ehrgeiz setzten die Brüder in möglichst schlichte und getreue Wiedergabe des Volkstons. Jakobs Hauptplan in dieser Zeit scheint eine Geschichte der altdeutschen Poesie gewesen zu sein. Ihr dienten seine ersten Ausgaben: "Die beiden ältesten deutschen Gedichte" (Cass. 1812), Hartmanns "Armer Heinrich" (Berl., 1815), "Die Lieder der alten Edda" (Bd. 1, ebd. 1815), die trotz ihrer Trefflichkeit wenig beachtet wurden, ihr die gemeinsame Zeitschrift der Brüder "Altdeutsche Wälder" (3 Bde., Cass. 1813; Frankf. 1815-16) und Jakobs erstes Buch "Über den altdeutschen Meistergesang" (Gött. 1811) als Vorarbeiten. Aber die Geschichte der deutschen Dichtung, d. h. der Volksdichtung, war für G. zugleich Geschichte der Sage; seine Untersuchungen über Sage und Mythus in verschiedenen Aufsätzen dieser Zeit hängen mit den unmethodischen Träumereien und tollen Etymologien von Görres und Kanne noch vielfach zusammen und lassen den künftigen Meister gesetzmäßiger Sprachforschung nicht ahnen.

Mit dem ersten Bande der "Deutschen Grammatik" (Gött. 1819, die Formenlehre enthaltend) beginnt die Reihe seiner bahnbrechenden Werke. Eine zweite Ausgabe dieses Bandes (ebd. 1822; 3. Ausg., nur den Vokalismus enthaltend, 1840) fügte die Lautlehre hinzu. Band 2 (1826) und 3 (1831) beendeten die Wortbildung, Band 4 (1837) begann die Syntax. Einen neuen Abdruck des ersten und zweiten Bandes besorgte Scherer (Berl. 1870 u. 1878), des dritten Roethe und Edw. Schröder (Gütersloh 1890). G.s "Deutsche Grammatik" begründete die histor. Sprachforschung und fegte die wüsten Phantastereien der damaligen philos. Grammatik mit einem Schlage hinweg. Sie ist eins der grundlegenden Werke aller Geschichtswissenschaft von einer fast wunderbaren Sicherheit der neugefundenen Methode. G. erkannte die Gesetzmäßigkeit des Lautwandels, entdeckte Ablaut, Umlaut, Brechung, brachte die schon von Rask vorbereitete Erkenntnis der Lautverschiebung zu vorläufigem Abschluß, befruchtete durch die ständige Vergleichung der altgerman. Dialekte die Methode der vergleichenden Sprachwissenschaft, die ihm ihrerseits den Weg erleichterte, er unterschied zuerst starke und schwache Flexion, erklärte phantasievoll, aber gewiß im Grundgedanken richtig die Verschiedenheit des grammatischen Geschlechts aus der ursprünglichen, sinnlichen, personifizierenden Anschauung; das ältere Deutsch steht im Vordergrunde seiner Forschung, aber er verfolgt die Sprachentwicklung bis auf seine Tage. Die Keime aller Fortschritte,