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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Großbritannien und Irland (Verfassung)

rechtlichen Normen vorgenommen werden muß, vom König allein vollzogen werden kann. Nur die Ernennung einzelner Minister geschieht durch persönliche Überreichung der Amtssiegel, sonst muß sich bei jeder Regierungshandlung ein Beamter beteiligen. Fehlt die Beteiligung, so ist die Handlung ungültig. Ein Beamter, der sich bei einer rechtswidrigen Handlung des Königs beteiligt, haftet für alle Folgen. Der König nimmt Anteil an der Regierung a. im Parlament (The King in Parliament) durch Genehmigung der ihm vorgelegten Gesetzentwürfe (s. Bill); diese ist seit 1707 nie versagt worden. Ferner eröffnet und schließt er das Parlament und kann dasselbe auflösen. b. Auf vielen Gebieten wird ihm durch das Gesetz ein Verordnungsrecht durch "Order in Council" überlassen. Die Verordnungen werden in einer Sitzung des Privy Council (s. d.), bei welcher der Minister, zu dessen Ressort die Verordnung gehört, zugegen ist, erlassen. Alle anwesenden Mitglieder des Privy Council gelten als beteiligt und haften für die Folgen. Bei solchen Gelegenheiten spricht man vom King in Council. c. Andere Erlasse können ohne Zuziehung des Kabinettsrats ergehen. Bei denselben äußert sich der königl. Wille entweder durch Urkunden, welche nur der Unterschrift (Sign manual) bedürfen und von dem zuständigen Minister gegengezeichnet werden, oder durch Abdruck des Großsiegels (Great Seal), also unter Verantwortlichkeit des Lord High Chancellor, dem dieses Siegel anvertraut ist. Welche Form der Äußerung angewandt wird, entscheiden feststehende Rechtsgrundsätze.

2) Das Parlament besteht aus König, House of Lords (s. Lords, House of) und House of Commons (s. Commons, House of); Vorsitzender des erstern, des Oberhauses, ist der Lord Chancellor (s. d.), Vorsitzender des Unterhauses der Speaker (s. d.). Man wendet den Ausdruck "Parlament" auch auf die augenblickliche Zusammensetzung an. In diesem Sinne sagt man, ein Parlament hört sieben Jahre nach seiner Zusammenkunft auf zu bestehen, wenn es nicht inzwischen aufgelöst worden ist. Eine Sitzungsperiode (Session) des Parlaments kommt zu Ende infolge Vertagung durch königl. Erlaß (prorogation); doch kann jedes Haus auch selbständig seine Vertagung (adjournment) aussprechen, die sich auf Stunden, Tage oder Wochen erstrecken kann. Nach Beendigung eines adjournment werden alle Geschäfte da aufgenommen, wohin sie vor der Vertagung gelangt waren; bei einer prorogation werden hingegen alle angefangenen Geschäfte hinfällig. Jede neue Session wird durch eine Thronrede eröffnet, die mit Adressen von beiden Häusern beantwortet wird. Die Adressen geben Gelegenheit zu Debatten über das Programm der Regierung, und wenn die von der Regierung vorgeschlagene Adresse nicht genehmigt wird, muß dieselbe nach einem feststehenden Gebrauch abdanken. Früher löste der Tod des Königs ohne weiteres das Parlament auf; ein Gesetz von 1867 hat diese Regel beseitigt. Die Auflösung erfolgt in der Regel auch ohne besondere Gründe etwas vor Ablauf der gesetzlichen Zeit. Die Gegenwart von Fremden während der Sitzungen ist nicht gestattet, doch sind alle Vorkehrungen für Zulassung des Publikums getroffen; nur ist der Sprecher genötigt, die Galerien räumen zu lassen, wenn ihn ein Mitglied auf die Anwesenheit desselben aufmerksam macht. Es kommt dies nur selten vor.

Das Parlament ist nicht nur eine gesetzgebende und steuerbewilligende Versammlung; beide Häuser haben auch gerichtliche Befugnisse. Sie können ihre eigenen Mitglieder und auch Nichtmitglieder, welche ihre Befehle mißachten, zu Freiheitsstrafen verurteilen. Ferner handelt bei Impeachment (s. d.) das House of Commons im Vorverfahren und das House of Lords im Hauptverfahren als Gerichtshof. In Zivilsachen ist das House of Lords höchste Instanz. Auch die Verhandlung über sog. Private Bills (s. Bill) gleicht mehr dem Verfahren einer gerichtlichen Behörde. In die Verwaltung greift das Parlament ein durch die Einsetzung von Kommissionen zur Untersuchung von Vorgängen bei Regierungsbehörden und, allerdings nur selten, durch Gesuche an den König, welche um die Entlassung solcher Beamten (wie z. B. der Richter) bitten, welche in anderer Weise nicht abgesetzt werden können. Schließlich kann die Regierung jederzeit durch ein Mißtrauensvotum des House of Commons zur Abdankung oder wenigstens zur Auflösung und Ausschreibung von Neuwahlen gezwungen werden.

3) Die Regierung im weitern Sinne bilden diejenigen hohen Staatsbeamten, die in der Regel Mitglieder eines der beiden Häuser sind und abdanken, wenn ihre Partei im House of Commons nicht mehr in der Mehrheit ist (es sei denn, daß das Parlament aufgelöst wird und sich bei der Neuwahl wieder eine Majorität ergiebt). Sie werden als Minister bezeichnet; ein jeder, der mit einer wichtigen Maßregel aus principiellen Gründen nicht einverstanden ist, muß nach einem eingebürgerten Brauch abdanken. In diesem weitern Sinne besteht das Ministerium aus 55 Mitgliedern. Unmittelbar an der Beratung über die Regierungspolitik beteiligt ist indessen nur ein kleiner Teil, bestehend aus den höchsten Beamten, welche unter dem Namen Cabinet (s. d.) zusammengefaßt werden und regelmäßige Sitzungen (Cabinet Councils) abhalten. Es hängt in gewissem Maße von dem Gutdünken des Prime Minister ab, wen er zum Cabinet zuzieht. Immer werden hinzugezogen: der Lord High Chancellor für Großbritannien, der erste Lord des Schatzamtes, die fünf Staatssekretäre, der Kanzler der Staatskasse, der Präsident des Privy Council, der erste Lord der Admiralität; gewöhnlich noch 2-6 andere Mitglieder, die eins der folgenden Ämter bekleiden: Lord Chancellor für Irland, Lord Lieutenant (s. d.) für Irland, Hauptsekretär für Irland, Sekretär für Schottland, Präsident des Handelsamtes, Präsident des Amtes für Lokalverwaltung, Präsident des Amtes für Ackerbau, Vicepräsident der Abteilung für Erziehungswesen, Lord Privy Seal (Inhaber des Privatsiegels) und der Generalpostmeister. Bei diesen Ämtern hängt es meist von der Persönlichkeit des Inhabers ab, ob er zum Mitglied des Cabinet gemacht wird. Der Erste Minister (Prime Minister) vertritt das Cabinet dem König gegenüber; wenn auch ein einzelner Minister direkt Vortrag erstatten kann, so würde er doch bei wichtigern Fragen stets dem Ersten Minister Kenntnis geben. Das Cabinet ist solidarisch verantwortlich in ähnlichem Sinne wie das Gesamtministerium. Rechtlich verantwortlich ist jeder Minister nur für die Handlungen, bei denen seine amtlichen Befugnisse zur Geltung kommen. Keine Urkunde und keine Handlung wird vom Cabinet als solchem vollzogen. Während das Cabinet thatsächlich die Regierungsgewalt ausübt, ist das