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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Medizin

dientesten Ärzten aller Zeiten gehört. Sein System ist ein vorwiegend eklektisches, welches die unvergänglichen Grundsätze des Hippokrates mit den Anforderungen der Physiologie seiner Zeit in Einklang zu bringen suchte; es findet in der "Faser" denjenigen Organbestandteil, durch dessen Erschlaffung oder Spannung die meisten Krankheitszustände entstehen. Boerhaaves berühmteste Schüler waren Gerhard van Swieten (1700-72), welcher den Ruf der ältern Wiener Schule begründete, und Albrecht von Haller (1708-77), welcher eine neue Epoche der Physiologie, die der Experimentalphysiologie, und damit auch eine neue Epoche der Heilkunde herbeiführte. Die von ihm begründete Lehre von der Irritabilität (s. Muskeln) nimmt unter seinen Verdiensten die erste Stelle ein, die in der Folge der Ausgangspunkt verschiedener pathol. Systeme wurde. Durch eine Kombination des Hoffmannschen Systems mit der Hallerschen Irritabilität entstand das System William Cullens (1710-90), nach welchem die Ursache aller krankhaften Vorgänge im Nervensystem zu suchen ist. Den Beginn der wissenschaftlichen Periode der pathol. Anatomie bezeichnet Morgagnis (1682-1771) unsterbliche Schrift über den Sitz und die Ursachen der Krankheiten; um ihre weitere Ausbildung machten sich besonders Lieutaud, Portal, John Hunter und Baillie verdient.

Die von Gerh. van Swieten gegründete Wiener Schule hat auf die Entwicklung der Heilkunde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. durch ihre diagnost. und therapeutischen Leistungen den größten Einfluß geübt. Ihre ersten bedeutenden Lehrer waren Anton de Haën (1704-76) und Anton Störck (1731-1803); zur Höhe ihres Ruhms gelangte sie durch Maximilian Stoll aus Schwaben (1742-88), welcher die Hauptursache der meisten Krankheiten in den entarteten Säften und Unreinigkeiten des Unterleibes erblickte und sich zur Entfernung derselben in ausgedehntem Maße der Brechmittel bediente. Zu ihrer einseitigsten Ausbildung gelangte die Lehre Stolls von der gastrischen und biliösen Natur der Krankheiten durch den hess. Leibarzt Job. Kämpf, welcher die meisten chronischen Krankheiten von "Unterleibsinfarkten", d. h. von der Zurückhaltung eingedickter, innerhalb des Darmkanals zersetzter Kotballen ableitete und gegen dieselben unermüdlich mit seinen aus verschiedenen Pflanzenabkochungen bestehenden auflösenden "Visceralklystieren" zu Felde zog. Die Konfusion, in welcher sich gegen das Ende des 18. Jahrh. die mediz. Theorien verfangen hatten, fand einen Abschluß durch den Engländer John Brown (1735-88), dessen Erregungstheorie (s. d.) namentlich in Deutschland und Italien mit größter Begeisterung aufgenommen wurde. Die bedeutendsten Bekämpfer des Brownschen Systems waren Johann Stieglitz in Hannover (1767-1840) und Christian Wilhelm Hufeland, Professor in Jena und Berlin (1762-1836), welcher unermüdlich die theoretischen Irrtümer und die praktischen Folgerungen der Brownschen Erregungstheorie bekämpfte und dadurch am meisten zu dem endlichen Sturze derselben beitrug.

Die erstaunlichen Fortschritte, welche das 19. Jahrh. auf allen Gebieten der Naturwissenschaften aufweist, haben selbstverständlich auch auf die Heilkunde teils unmittelbar durch die Fülle der neu gewonnenen Thatsachen, teils und hauptsächlich dadurch außerordentlich fördernd eingewirkt, daß die exakte Methode der Forschung auch auf dem Gebiete der M. zu voller Geltung kam. Zunächst war freilich in Deutschland die Schellingsche Naturphilosophie (s. d.) von den Ärzten mit Begeisterung aufgenommen und gepflegt worden, obwohl dieselbe für die M. nicht das geringste Nützliche geleistet hat; vielmehr trug sie nur dazu bei, die Talente noch mehr von der detaillierten Forschung abzuziehen und andererseits den Wert der philos. Bildung für den Naturforscher und den Arzt allmählich in Mißkredit zu bringen. Gerade die naturphilos. Schule hat drei Irrlehren wesentlichen Vorschub geleistet, welche sich mit Begierde des Publikums zu bemächtigen suchten: dem von Franz Mesmer ins Leben gerufenen Tierischen Magnetismus (s. d.), der Gallschen Kranioskopie (s. Phrenologie) und der von Hahnemann begründeten Homöopathie (s. d.), welche letztere sich die anmaßende Negierung der ganzen seitherigen Heilkunde zur Aufgabe machte. In naher Beziehung zur Naturphilosophie stand die sog. naturhistorische Schule, als deren wichtigster Vertreter Schönlein (1793-1864) hervorzuheben ist. Von dem schon von Plato und Paracelsus ausgesprochenen, von den Naturphilosophen weiter ausgeführten Gedanken ausgehend, daß die Krankheitserscheinungen etwas von dem Individuum Verschiedenes seien und durch besondere, im Körper schmarotzende Organismen hervorgerufen werden, entwarf Schönlein ein nosologisches System, welches die Krankheiten nach Art der Naturgeschichte in Klassen, Familien, Gruppen und Arten einteilte.

Die Bewegungen zu einer radikalen Umwälzung in der mediz. Wissenschaft gingen von Frankreich aus. Hier hatte schon an der Schwelle des 19. Jahrh. Bichat (1771-1802) die allgemeine (mikroskopische) Anatomie begründet und damit der neuen wissenschaftlichen Richtung der M. einen wichtigen Ausgangspunkt geschaffen; Corvisart (1755-1821) und Laënnec (1781-1826) begründeten die physik. Diagnostik, indem ersterer die von Auenbrugger in Wien (1761) erfundene, aber vollständig wieder in Vergessenheit geratene Perkussion zum Gemeingut der Ärzte machte, Laënnec aber die Entdeckung Auenbruggers durch die ebenbürtige Auskultation (s. d.) ergänzte. Cruveilhier, Chomel, Andral und Louis errichteten sodann die pathologisch-anatomische Schule, welche die Hauptaufgabe des Arztes in die Aufsuchung der pathol.-anatom. Veränderungen und in die Erforschung der lokalen Krankheitsprodukte verlegte und einen außerordentlichen Einfluß auf die Umgestaltung der wissenschaftlichen Methoden und der Anschauungen in der Heilkunde ausübte. Rokitansky verpflanzte die pathol.-anatom. Richtung der Pariser Schule nach Wien und brachte in Gemeinschaft mit Virchow, dem Begründer der Cellularpathologie (s. d.), die pathol. Anatomie auf ihre heutige Höhe.

Unter den zahlreichen Fortschritten der modernen M. sind besonders hervorzuheben die außerordentliche Vervollkommnung der Untersuchungsmethoden und mediz. Instrumente (Augen- und Kehlkopfspiegel, elektro-endoskopische Beleuchtungsapparate, Thermometrie, Sphygmographie, Mikroskopie u. a.), die sorgfältige Ausbildung und Vertiefung der einzelnen Specialfächer, in erster Linie der operativen und antiseptischen Chirurgie, die Bereicherung der Therapie durch zahlreiche neue wirksame Heilmittel und Heilmethoden (Antipyrese durch kühle Bäder und ähnliche Wärmeentziehungen sowie durch Medikamente, Transfusion, perkutane und subkutane