Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

718

Medizin

Wiedererweckung der ärztlichen Kunst und Wissenschaft mächtig; namentlich waren es die Hochschulen von Bologna, Pavia, Paris und Montpellier, an welchen mit Eifer M. studiert wurde, wenn auch die spitzfindige Dialektik der scholastischen Philosophie der weitern Entwicklung der wissenschaftlichen Heilkunde nicht eben förderlich war. Mit dem Aufblühen der Universitäten bildete sich auch wieder ein besonderer ärztlicher Stand, die "freien Meister der Physica und Erztney". Diese traten nach der Sitte der Zeit als eigene Korporation auf, begünstigt von den weltlichen Machthabern, und bildeten gewissermaßen eine Republik, deren Häupter die alten Meister und Lehrer, deren Mittelpunkt und Forum die ärztlichen Schulen und Universitäten waren. Die Ärzte wurden mit der Promotion Mitglieder der Fakultät, der sie Treue schwuren und von der sie die Facultas artem docendi et exercendi mit dem später in das Doktordiplom umgewandelten Meisterbrief erhielten.

Eine neue Epoche in der Geschichte der M. beginnt mit dem 16. Jahrh., in welchem unter dem Einflusse der Erfindung der Buchdruckerkunst, der Reformation und der vorausgegangenen geogr. Entdeckungen sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens, besonders aber auf dem der Naturwissenschaften, ein mächtiger Aufschwung vollzog, an welchem auch die M. einen erfreulichen Anteil nahm. Der Bann der Tradition ward gebrochen, die Naturbeobachtung kam wieder mehr und mehr zur Geltung und bekämpfte erfolgreich die bis dahin fast ausschließlich herrschende Scholastik. Namentlich waren es der großartige Aufschwung der Anatomie und die zahlreichen glänzenden Entdeckungen in dieser Wissenschaft, durch welche die seit fast anderthalb Jahrtausenden herrschende Autorität des Galenus und der Araber, wenn auch nach hartem Kampfe, endgültig gestürzt wurde; Sylvius, Vesalius, dessen berühmtes Werk über den Bau des menschlichen Körpers (1543) allen Teilen der Anatomie eine völlig neue Gestalt verlieh, Fallopia und Eustachio erhoben die Anatomie zur selbständigen Wissenschaft. Infolge der Wiederbelebung der anatom. Studien begann zu dieser Zeit auch die Geburtshilfe (s. d.) aufzublühen, welche sich bis dahin fast ausschließlich in den Händen der Hebammen befunden hatte. Auch auf dem Gebiete der praktischen M. erhob sich bald ein lebhafter Kampf gegen das herrschende System des Galenus; der heftigste und folgenreichste Angriff auf dasselbe erfolgte durch Theophrastus Bombastus Paracelsus (gest. 1541), der in vielen Beziehungen reformierend auf die Heilkunde einwirkte.

Auf die Heilkunde des 17. Jahrh. übten zwei Philosophen einen hervorragenden und nachhaltenden Einfluß aus, nämlich Baco von Verulam durch die von ihm aufgestellte induktive Methode der Naturforschung und Descartes, dessen Korpuskularlehre den beiden wichtigsten mediz. Systemen des 17. und beginnenden 18. Jahrh. zu Grunde liegt: der iatrochem. und iatromechan. Schule. Die iatrochemische oder chemiatrische Schule, von dem Niederländer Franz de la Boë oder Sylvius (1614-72) begründet, versuchte zuerst die Vorgänge im gesunden und kranken Körper sowie die Wirkungen der Heilmittel auf chem. Vorgänge zurückzuführen; es ist die Gärung, welche nach ihm dem Leben und allen seinen Funktionen zu Grunde liegt. Eine Verbindung chemiatrischer mit spiritualistisch-mystischen Anschauungen stellt das System van Helmonts (gest. 1644) dar. Nach ihm ist die ganze Natur durch geistige Schöpfungskräfte beseelt, an deren Spitze der Archeus oder das schaffende Princip der Natur steht. Beim Menschen sitzt dieser Archeus im Magen und regiert von hier aus durch eine Menge von untergeordneten Lebensgeistern, die er nach rechts und links, nach oben und unten mit seinen Befehlen aussendet, den ganzen Körper. Die iatromechanische oder iatromathematische (iatrophysische) Schule führte sämtliche Lebensvorgänge auf die Gesetze der Statik und Hydraulik zurück und versuchte die M. als einen Teil der angewandten Mathematik und mechan. Physik zu behandeln. Der bedeutendste Vorläufer der Iatrophysiker ist Santorio Santoro, Professor zu Padua und Venedig (1561-1636), der zuerst zahllose genaue Messungen und Wägungen zur Bestimmung der Hautausdünstung, der tierischen Wärme und des Stoffumsatzes anstellte; der eigentliche Stifter der Schule ist Alfonso Borelli, Professor in Pisa (1608-79), der Verfasser des berühmten Werkes über die Bewegung der Tiere, welcher die Muskelbewegung, den Blutumlauf, die Absonderung, Verdauung und Atmung auf mechan. Gesetze zurückführte und den Körper mit einer einfachen Maschine verglich. Ihren größten Triumph feierte die iatromechan. Schule in der durch William Harvey (1578-1658) gemachten wichtigen Entdeckung des Blutkreislaufs, durch welche Harvey im Verein mit seiner neuen Evolutions- und Eitheorie ("omne vivum ex ovo") der Schöpfer der neuern Physiologie wurde. Die Herrschaft der iatrophysischen wie der chemiatrischen Lehren wurde erschüttert durch Thomas Sydenham (1624-89), in welchem die Wissenschaft mit Recht einen der edelsten und verdientesten Ärzte aller Zeiten verehrt; er führte die praktische Heilkunde aus den Irrgängen verführerischer Hypothesen wieder auf die Bahn der nüchternen Beobachtung zurück.

Das 18. Jahrh., besonders in seinen ersten zwei Dritteln, kann geradezu als die Blüteperiode der mediz. Systeme und Theorien bezeichnet werden. Zunächst war die Universität Halle die Ursprungsstätte von zwei theoretisch-mediz. Systemen. Das System von Georg Ernst Stahl, Professor der M. in Halle (1660-1734), betrachtet die denkende Seele (anima) als das oberste Princip des Lebens und wird deshalb auch als Animismus bezeichnet. Die Krankheiten sind Reaktionen der Seele gegen die Krankheitsursachen, d. h. innerliche Bewegungen, welche die Seele im Kampfe mit jenen Ursachen ausführt, und die eigentliche Behandlung muß sich deshalb darauf beschränken, die der Einwirkung der Seele entgegen stehenden Hindernisse hinwegzuräumen und sie im Kampfe gegen die Krankheitsursachen zu unterstützen. Stahls entschiedenster Gegner war Friedrich Hoffmann, gleichfalls Professor in Halle (1660-1742). Nach ihm ist der Körper eine Maschine, welche durch den "Nervenäther" in Thätigkeit versetzt wird; dieser entsteht im Gehirn, gelangt mit dem Blut und den Nerven in alle Teile des Körpers und veranlaßt die einzelnen Organe zu ihren specifischen Leistungen. Alle Krankheiten lassen sich zurückführen auf zu starkes oder zu schwaches Einströmen des Nervenäthers; jenes erzeugt Krampf, dieses Schwäche oder Atonie. Beide Svsteme wurden bald verdrängt durch das System Boerhaaves (1668-1738), welcher zu den berühmtesten und ver-^[folgende Seite]